In der Vorbemerkung seiner "privaten Lebensbeschreibung" ruft Fritz Rudolf Fries, von seinen Freunden nur Fedrico genannt, seine Leser auf, "unsere Biografien" zu vergleichen. Damit wird man erinnert an die kurze Bewegung nach der "Wende", die mehr Forderung denn Realität wurde, sich als Teil der deutsch-deutschen mentalen Vereinigung gegenseitig die Biografien zu erzählen. So schnell wie dies im Ansturm der politisch-ökonomischen Umwälzungen versandete, so sehr kam es doch nach kurzen Irritationen in den 90-er Jahren zu einem bis heute anhaltenden Boom autobiographischer und biographischer Schriften, die zusammen mit den umfangreichen Aktenhinterlassenschaften des untergegangenen Staatsgebildes dem forschenden Historiker Auskunft über das Leben in der DDR geben k&
können. Das Motiv der Selbstvergewisserung liegt all diesen Zeitzeugnissen zugrunde und scheint auch Fries, nachdem er bereits 1996 Einsicht in seine Tagebücher der Jahre 1979, 1984, 1993 und 1995 (Im Jahr des Hahns, 1996) gegeben hatte, an- bzw. umgetrieben zu haben. Aber, ist es nicht noch zu früh für eine bilanzierende Lebensrückschau? Ist, wie der Autor selbst anmerkt, "trotz anderer Bekundungen" die Zeit noch nicht reif für eine "Wertung einer 40-jährigen DDR-Geschichte, in der ich meine privaten Fußnoten einbringe" ? Trotzdem wird es gewagt, weil offensichtlich eigene Klarheit über die in der DDR verbrachten Jahre vonnöten ist, um der Profession des Fabulierens in einer über Nacht "fremden Straße in einer fremden Stadt" weiter nachgehen zu können. Dabei hat Fries in seinem stattlichen Prosawerk bereits viel Autobiographisches erzählt, so dass dem Kenner manches vertraut vorkommt. Neu sind jedoch in ihrer Stringenz die beiden Koordinaten, von denen bestimmt er sein Leben beschreibt: Die "spanische Gesinnung" und die Diogenes-Rolle. Beides kulminiert in einer sich zugeschriebenen Außenseiter-Rolle, von deren Entwicklung, Ausprägung und auch Verwicklungen in diesen "Erinnerungen" meist munter und locker, zuweilen selbstironisch in der ersten Person berichtet wird. Aus dieser Perspektive des Außenseiters fällt auch der Blick auf das literarische Leben in der DDR, dessen Teil er ja auch war, eher spärlich aus. Verstärkt wird ein liebevolles Porträt des Leipziger Verlegers Rudolf Marx, in dessen Schule der Autor in der Dieterich´schen Verlagsbuchhandlung seine ersten Erfahrungen als Nachwortschreiber und Übersetzer macht. Auch fällt der Rückblick auf andere Verleger wie Hans Marquard und Konrad Reich sowie Lektoren wie Kurt Batt uneingeschränkt positiv aus. Hier erinnert sich ein absoluter Einzelgänger, dem die für sein Schreiben existentiellen äußeren Bedingungen im weit von der Stadt gelegenen Vorort wichtiger waren, als die Präsenz in dem oft aufgeregten und auch zerstrittenen literarischen Milieu der DDR-Hauptstadt. Hier hat sich jemand gezielt und beharrlich ein von Büchern, Bildern und Platten überquellendes Ambiente erarbeitet, aus dem heraus die phantastischen Erzählungen nur so hervorströmen. Die "spanische Gesinnung" kommt aus der spanischen Herkunft, einer doppelsprachig geprägten Kindheit und Jugend, die in dichten Beschreibungen des Kriegs und Nachkriegs-Alltags in Leipzig ab 1942 plastisch aufleuchtet. "Spanische Gesinnung" von der Großmutter, der Mutter oder den Tanten verkörpert, meint eine gewisse stoische Haltung, "wollte man durchs Leben kommen". Sie beinhaltet die Liebe zur Literatur, eine besondere Geselligkeit und lustig-ironische Lebensart, zu der lebenslange Freundschaften ebenso gehören wie die familiären Traditionen. Aber auch das leichte Abergläubischsein gehörte zu ihr. Die Rolle des Diogenes mixt sich der Autor aus den drei historischen Personen zusammen: dem griechischen Philosophen, dem griechischen Schriftsteller und dem sich als "Weltbürger" bezeichnenden Philosophen "in der Tonne". Die Parkbank steht für Kontemplation und Müßiggang, für eine Beziehung zur Natur, in der für den Nachfahren einer großen Seefahrernation natürlich besonders heftig alle großen Wasser geliebt werden. Aber auch die Städte haben es dem jungen sowie älter werdenden Flaneur angetan: eindringliche Liebeserklärungen an Leipzig, Berlin, Paris, Barcelona, Madrid, Havanna, New York in Geräuschen und Gerüchen, die auch schon das literarische Werk prägten und internationales Flair in die provinzielle DDR brachten. Das Schicksal seines Romans Der Weg nach Obliadooh, der 1966 nur in der BRD erschien und die wissenschaftliche Laufbahn von Fries durch Entlassung aus der Akademie der Wissenschaften beendete, prädestinierte seinen Verfasser für eine Sonderrolle im deutsch-deutschen Literaturbetrieb. Erst 1974 in den Schriftstellerverband aufgenommen, nahm er an dessen Aktivitäten kaum und wenn distanziert teil. Eher schon an denen des PEN. Sein Schreiben folgte dem, was er bei seinem Lehrer Werner Krauss gelernt hatte, "daß die eigentliche Geschichtsschreibung Sache der Literatur ist". Er wurde in den 70-er Jahren zum anerkannten Autor von besonderer Welthaltigkeit in der DDR, als sich auch noch die Germanistik für ihn interessierte, gab es 1978/79 eine starke Bemühung, seinen Weg nach Obliadooh herauszubringen. Aber für die DDR-Zensur enthielt dieses kongeniale und zum bleibenden Bestand der DDR-Literatur gehörende Buch noch immer zuviel, den sozialistisch-realistischen Kanon demontierende Sprengkraft. Als Stichworte wurden angeführt das Vorkommen von Stalinismus und Stasi. Mit letzterem nun, hier in Gestalt zweier Herren auftretend, ist die lebensgeschichtliche Bedrohung und Verführung des Autors aufgerufen, die ihn wohl auch seine Erinnerungen in einen Teil vor und einen Teil nach 1976 gliedern lässt. Der Rauswurf von Wolf Biermann, "Aus Spanien zurückkommend, fand ich mich selbst in einem andern Land", gegen den zu protestieren er unterlässt, fällt zusammen mit seiner IM-Verpflichtung, als deren ihn nach der Wende moralisch belastendes Zeugnis etwa Tausend Blatt überliefert sind. Zugleich gibt es eine Akte "Operativer Vorgang Autor" von 750 Seiten, die Fries in der Rolle des Opfers zeigen. Was erfahren wir zur Erklärung dieser "kalkulierten Schizophrenie", einen Ausdruck, mit dem der Autor auch seine wechselnden Amouren bedenkt. Wie passt das alles mit der "spanischen Gesinnung" zusammen? Es werden einige Aspekte zusammengetragen, die die langjährig betriebene Verführung eines Außenseiters belegen können: Neugier auf ein gefährliches Spiel, die Vorstellung, in einer Machtkonstellation wichtig zu sein, die Annahme, einen für die DDR außenpolitischen wichtigen Beitrag leisten zu können, aber auch: winkende Reisemöglichkeiten angesichts seiner sich verschlechternden Beweglichkeit und kleinere materielle Begünstigungen. "Was war es, daß er den Pakt mit dem Teufel unterschrieb, nach fast zehnjähriger Verweigerung, und sich zum Jux, mit Faust verglich? Nun hatte er gestundete Zeit, und er würde sagen und schreiben können, was er wolle - sofern (und daran dachte er zunächst kaum) er den Teufel mit den Brosamen zufrieden stellte. Er würde endlich reisen können. Spanien war sein Ziel." Resümierend heißt es zu dieser IM-Tätigkeit der späten 70-er und frühen 80-er Jahre, dass sie ihm verschafft habe, "die Freiheit zu leben und zu arbeiten, und die Einsicht in ein paar Zusammenhänge, die heute allzu gern auseinandergerissen werden, wenn es darum geht, die Geschichte der DDR zu schreiben." Aber klar sieht er erst jetzt, dass die Stasi-Belagerer die harmlos genannten Namen und Sachverhalte in ihre Legenden einflochten und sie ihm "im Herstellen einer fantastischen Literatur, wie ich noch merken würde, haushoch überlegen waren." Der fließende und sich in der Wertigkeit oft umkehrende Zusammenhang von Literatur und Wirklichkeit erwies sich in dieser Lebensdimension als ambivalent und für die "spanische Gesinnung" des Autors als abträglich. So bleiben wie schon am Romanschluß von Obliadooh auch hier am Ende "... Die Fragen, die Antworten, die Fragen." Und für uns Leser natürlich das Warten auf den nächsten bereits in Arbeit befindlichen Fries-Roman. Fritz Rudolf Fries: Diogenes auf der Parkbank. Erinnerungen. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2002, 317 S., 17,50 EUR
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