Bewahrerin der Lust

Baudelaire in Asien Wei Huis Erfolgsroman "Shanghai Baby" ist in China verboten Simone Meier

Diese Feuerwehrmänner", sagte Wei Hui begeistert, als sie am 11. September vor Ort in New York die Nachwehen der Katastrophe beobachtet, "sind wie Kommunisten. Wenn wir in unserem sozialistischen Land jemanden loben, weil er sich dem Wohl anderer widmet und opfert, dann sagen wir, er sei ein Kommunist. In China heißt es immer, dass Amerika dekadent und kapitalistisch sei, doch jetzt habe ich das echte Amerika gesehen." Nun ist die 28-jährige Wei Hui allerdings kein naives Schulmädchen auf Klassenausflug in den USA, sondern laut New York Times die derzeit populärste Autorin Chinas und, wie das Zitat zeigt, wenigstens im Geist eigentlich eine doch recht linientreue Tochter ihres Landes. Auf dem Papier ist sie alles andere, nämlich einfach eine nonkonforme junge Frau, die gerne und gut über Sex, sogar über gleichgeschlechtlichen, über Drogen, weibliche Selbstfindung und so etwas Nostalgisches wie ein Rock´n´Roll-Lebensgefühl schreibt. Die sich Feministin nennt und Simone de Beauvoir und Marguerite Duras als ihre Lieblingsautorinnen anführt. Was natürlich in China alles nicht ganz unproblematisch ist. Vor wenigen Monaten noch hat die chinesische Regierung behauptet, Homosexualität würde in China nicht existieren, und dass sich eine Frau ganz ungeniert aus dem Fundus von Geschlechterbildern der westlichen Ikonografie bedient und diese erst noch in einem Akt halsbrecherischer Travestie emanzipatorisch belebt, das macht sie im Fall von Wei Hui zu einer "liederlichen Sklavin ausländischer Kultur".

Bevor ihr Roman Shanghai Baby, es war ihr fünfter, im April 2000 als pornografisch, dekadent und die soziale Stabilität gefährdend verboten wurde, hatten sich davon innerhalb von sechs Monaten bereits 130.000 Exemplare allein in China verkauft. Weitere 40.000 wurden verbrannt, Wei Huis für europäische Verhältnisse riesiger Verlag Frühlingswind wurde für acht Monate geschlossen, ihr Verleger wurde gezwungen, seinen Job aufzugeben. Inzwischen sind in China von Shanghai Baby schätzungsweise fünf Millionen Raubkopien im Umlauf, das Buch wird nachts vor den Clubs von Shanghai, Beijing und Hongkong unter der Hand ans Partyvolk verkauft, läuft unter "Glam-Lit" und "Grunge-Novel", hat Provinz-Plagiate unter Titeln wie Chongqing Baby oder Guangzhou Baby provoziert, wurde in 24 Sprachen übersetzt, die erste französische Auflage war in drei Wochen ausverkauft, in Japan verkaufte sich das Buch 250.000 mal und auf der Amazon-Bestenliste für Deutschland klettert es seit dem Erscheinungstag der deutschen Übersetzung am 12. September jeden Tag unaufhaltsam nach vorn.

Und weshalb? Etwa nur wegen der Schlagworte "Skandalroman" und "Jungautorin"? Haben wir es beim Massenphänomen Wei Hui etwa bloß mit einer attraktiveren Fassung von Konsalik zu tun? Ein Erfolg wie derjenige von Wei Hui in Europa kann auch nicht an der Gattung des wieder einmal stark mit Erotik beschäftigten Romans liegen, da lasen wir in den letzten Monaten schon so Explizites wie Zeruja Shalev mit Liebesleben oder Sister Souljah mit Der kälteste Winter aller Zeiten oder selbst Christine Angot mit Inzest.

Bei Wei Hui kommt zum selbstverständlichen Umgang mit Geschlechtsorganen, Drogen und Dichtung jedoch noch so manches dazu, was ihren Roman faszinierend macht. Vor allem anderen die Sprache: denn was da durch die weitgehend autobiografische Entwicklungsgeschichte einer jungen Autorin im postmodern-urbanen Generationen- und Kulturenkonflikt klingt, ist so etwas wie die Stimme eines weiblichen, asiatischen Baudelaire. Natürlich stehen auch hier die Leuchtfeuer der Popkultur wacker in der Landschaft, doch derart ergreifend und ungewohnt poetisch verfremdet, als würden sich Trainspotting und In the Mood for Love in der idealsten aller Liebesaffären begegnen. Das Gerüst der Handlung, die vorwiegend aus gekonnt ineinander verschlungenen Emotions-Fährten durch die maroden Eingeweide der asiatischen Metropole Shanghai besteht, lässt sich auf den Prototyp einer Künstlerbiografie reduzieren: Die dafür nötigen, klassisch antagonistischen westlichen Jugendstil-Konzepte der femme fatale und femme fragile werden bei Wei Hui allerdings einem Geschlechterwechsel unterzogen und treten in der Rolle des blonden Berliners homme fatal Mark als Abziehbild eines faschistischen Verführers, wie ihn einst Sylvia Plath propagierte, und des schmächtigen chinesischen homme fragil Tiantian, einem kreativen, über Drogenexzessen und Depressionen impotent gewordenen Jüngling, wieder auf. Zwischen ihnen ruht die Dichterinnendiva Coco, saugt aus dem einen sexuellen, aus dem andern spirituelle Energie, am Ende ist Tiantian tot, Mark wieder in Deutschland und das Werk strebt seiner Vollendung entgegen. Das ist eine Konstellation, wie sie sich spätestens seit Edgar Allen Poe viele schwarzromantische Autoren leisten, über die schönen weiblichen Leichen, die haufenweise liegen bleiben hat Elisabeth Bronfen damals ihren akademischen Bestseller geschrieben.

Die schöne lebendige Frau auf dem Cover von Shanghai Baby ist übrigens die Autorin selbst. Soviel poppige Eitelkeit muss denn doch sein, auch wenn das Buch viel zu gut ist, als dass sie es nötig hätte. Gesunde Selbstverkultung gehört für Wei Hui, deren Namen übersetzt "Bewahrerin der Weisheit" bedeutet, mit zum Selbstfindungsprogramm für die moderne Asiatin. Ihr Lebensziel ist relativ einfach: "Ich will weiterhin eine intelligente und schöne Frau sein." Bitte sehr.

Wei Hui: Shanghai Baby. Roman. Aus dem chinesischen von Karin Hasselblatt, Verlag Ullstein, Berlin 2001. 319 S., 35,20 DM
Simone Meier, geboren 1970 in Lausanne, lebt als Journalistin und Autorin in Zürich. 2000 erschien ihr erster Roman Mein Lieb, mein Lieb, mein Leben.

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