Ein fabelhaft kranker Trip

Verstörend Tony O’Neill zeichnet in „Sick City“ das Bild einer Stadt im Sex- und Drogenrausch, ohne viel zu erklären. Doch gerade das erzeugt Spannung

Hör zu, Schlampe, du bist mir egal. Du wirst sterben, stell dich besser schon mal drauf ein.“ Mit diesen Worten und 16 Messerstichen soll Susan Atkins 1969 die hochschwangere Schauspielerin Sharon Tate in deren Haus in Los Angeles getötet haben. Nicht zuletzt wegen dieses brutalen Mordes an Roman Polanskis Ehefrau ging die Manson-Family, der auch Atkins angehörte, in die amerikanische Kriminalgeschichte ein. Mit Blick auf die Aufmerksamkeit, die der Fall erregte, ist es unvorstellbar, wie viel ein Video wert wäre, das eine Orgie im Hause Polanski-Tate zeigt. Der in New York lebende Schriftsteller Tony O’Neill kennt sogar den genauen Preis: drei Millionen Dollar. Ob der Sex-Film in Sick City allerdings tatsächlich existiert, bleibt lange Zeit fragwürdig.

O’Neill, der ursprünglich aus England stammt, zeigt ein L.A., für das „krank“ noch die schmeichelhafteste Bezeichnung ist. In Sick City dreht sich die Welt ausschließlich um „Drugs, Sex and Crime“. Wie es in den Drogenvierteln zugeht, muss O’Neill wissen, war er doch selbst jahrelang von Crack und Heroin abhängig. Damals war er noch Musiker und spielte unter anderem bei Marc Almond Keyboard. Seine Erfahrungen mit Drogen und Musikbusiness schrieb er 2006 in seinem autobiografischen Debütroman Digging the Vein nieder. Sick City ist der dritte Roman des 33-Jährigen und sein erster, der ins Deutsche übersetzt wurde er ist mehr als einmal ein Schlag ins Gesicht.

Der Plot hält, was er verspricht – eine heiße Story: Der Stricher und Junkie Jeffrey findet seinen „Sugar-Daddy“ Bill nach einer Sex-Party tot im Bett. Mit 2000 Dollar, ein wenig Kokain und Marihuana und einem 16-Millimeter-Film aus Bills Safe macht sich Jeffrey auf, ein neues Leben zu beginnen. Er weist sich selbst in die Klinik des Fernsehtherapeuten Dr. Mike ein. Dort lernt er Randal kennen, Drogenfreak und Sohn einer wohlhabenden Hollywood-Dynastie. Mit ihm zusammen versucht Jeffrey nach ihrer Entlassung, das Video von Tates Sex-Orgie an den Mann zu bringen.

Schon zu Anfang rechnet man nicht damit, dass die beiden Protagonisten ihr Leben irgendwann auf die Reihe kriegen. Dafür haben sie zu viel Spaß am Drogenrausch und daran, zugedröhnt Sex zu haben: „Alles, was wir taten, war rauchen und ficken. Es waren schöne Zeiten.“

Grausamkeiten

Den warnenden Ton spart sich O’Neill, die Rolle des Predigers würde ihm auch nicht stehen. Aus einer auktorialen Perspektive, die, wie es scheint, mit eigenen Erfahrungen gefärbt ist, beschreibt er nicht nur das Hochgefühl eines Drogenrausches, sondern auch die Abstürze in allen Einzelheiten. Dabei erinnern die Protagonisten eher an Ungeziefer: „Niemand mag Kakerlaken. Es sind die stursten und hartnäckigsten Scheißkerle, die es gibt. Aber ihr Überlebensinstinkt ist Wahnsinn.“ Irgendwie stehen auch Jeffrey und Randal immer wieder auf, wenn auch nur, um zu ihrem Dealer zu gehen.

Trotz ihres erbärmlichen Junkie-Daseins gelingt es O’Neill, Jeffrey und Randal sympathisch wirken zu lassen. Man wünscht sich, dass sie es schaffen und mit den drei Millionen Dollar einen Neustart wagen. Aber Sick City ist nicht die Story zweier Junkies, deren erfolgreicher Entzug schon vorprogrammiert ist. Im Gegenteil, Sick City ist ein in 320 Seiten verpackter Trip, von dem man nicht mehr runterkommt.

Der Autor füllt seinen Roman mit grenzenloser Brutalität, die geschmackloser nicht sein könnte: „Er würde sie zum Schweigen bringen, ein für alle Mal. Er spreizte ihre Arschbacken auseinander, spie einen großen Batzen Spucke direkt in ihr Arschloch und stieß dann plötzlich und brutal hinein.“ Die Grausamkeiten gehen manchmal auch bis zum Mord: Pat, der von Sharon Tates Sex-Tape erfährt, fesselt Jeffreys früheren Liebhaber Tyler, foltert ihn, reißt ihm eine Brustwarze heraus und ersticht ihn schließlich. Währenddessen läuft Against All Odds von Phil Collins – eine perfekte Filmszene. Überhaupt wäre Sick City als Filmvorlage hervorragend geeignet und erinnert etwa an die Rasanz von Trainspotting. Der Roman hastet durch die Handlung, Blickwinkel und Handlungsstränge wechseln, und O’Neill setzt immer noch eins drauf – sei es an Dramatik oder Ekel.

Gerne eine Zigarette

Den Leser lässt O’Neill oftmals ratlos zurück. Es bleibt rätselhaft, welches Ziel der Autor verfolgt. Ereignisse bleiben kommentarlos stehen, Erklärungen scheinen unnötig. Aber gerade diese Ungewissheit macht den Roman aus, der Gemütszustand der Verwirrung schafft Spannung statt Unzufriedenheit oder gar Verärgerung.

Nur manchmal verliert sich der Autor in sprachlichen Klischees. Dann vergleicht er hellblaue Augen mit dem „schillernden Leuchten des Ozeans“. Ebenso neigt er zur Überzeichnung einiger Charaktere. Die Prostituierte Trina, die sich in Pat verliebt, sich ihm vollends unterwirft und ihn „Daddy“ nennt, ist nichts weiter als eine leere Hülle.

Die Personifizierung des Bösen könnte eindimensionaler kaum sein. Diesen Charakteren nette Züge zu verpassen, wäre auch befremdlich. Da gibt es zum Beispiel Dr. Mike, der in seiner TV-Show predigt, wie schlecht Drogen sind, aber selbst Junkies mit Medikamenten versorgt und seine Frau mit einer transsexuellen Prostituierten betrügt. Oder den ehemaligen LAPD-Kommissar Bill, der das Sex-Tape vom Tatort gestohlen hat und sich bis zu seinem Tod an jungen Männern aufgeilt. Mit Drogen hantieren sie alle – bis auf Randals Bruder Harvey, den O’Neill klischeehaft als maßlosen Spießer darstellt.

Lange lässt O’Neill seine Leser im Unklaren darüber, ob das Tape tatsächlich den Amateur-Sexfilm enthält, in dem Sharon Tate mit Steve McQueen, Yul Brynner und Mama Cass eine wüste Orgie feiern soll. In einem Interview behauptet Tony O’Neill sogar, er habe von Gerüchten gehört, dass ein derartiger Film tatsächlich existiere. Ob an dem Gerücht etwas dran ist oder nicht: Sick City ist so oder so ein Trip, nach dem man sich zumindest eine Zigarette anzünden möchte – und das nicht zuletzt wegen des Chaos, das er hinterlässt.


Sick City Tony ONeill Walde+Graf 2011, 320 S., 24,95


Tony O'Neill ist im September 2011 auf Lesereise, dabei wird er u.a. vom Schauspieler Robert Stadlober begleitet.
Termine: 19.9. HAMBURG Harbour Front + 20.9. WIEN Rabenhof Theater + 21.9. MÜNCHEN Muffathalle + 22.9. BERLIN Autorenbuchhandlung + 23.9. ZÜRICH Razzia

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