Langer Marsch

Die Olympischen Spiele 2008 Peking wird auf den Kopf gestellt, sagen die Veranstalter

Sie entfalten schon jetzt ihre polarisierende Macht - Skeptiker prophezeien für die Olympischen Spiele 2008 eine medienwirksame "Ouvertüre des chinesischen Jahrhunderts", das von einem Kulturkampf zwischen Ost und West geprägt sein werde. Regimekritiker in Peking erwarten eine Propagandaschlacht, mit der die Volksrepublik ihren Aufstieg zur Weltmacht unterstreichen wolle. Millionen Chinesen wiederum freuen sich schlicht auf das aus ihrer Sicht "größte Sportereignis der Geschichte". Was erwartet die Welt tatsächlich im August des Jahres 2008?

Glaubt man den fünf Maskottchen als "den populärsten Botschaftern der Olympia-Geschichte", wie sie IOC-Präsident Jacques Rogge euphorisch nennt, so werden die Spiele alles andere als ein weltpolitisches Theater: Der Fisch Beibei, der Panda Jingjing, das Olympische Feuer Huanhuan, die Antilope Yingying und die Schwalbe Nini sind entzückende kleine Kinderpuppen, deren Namen in Kurzform gebracht das Beijing huanying ni bilden - das "Herzlich Willkommen in Peking".

Doch welche Megametropole betreten die erwarteten 250.000 ausländischen Gäste und bereits jetzt akkreditierten, mehr als 22.000 Journalisten im Hochsommer 2008? Chinas Führung ist wie zu erwarten ehrgeizig - während der Spiele soll sich ein modernes, dynamisches und selbstbewusstes China präsentieren. Scheiterte die Olympiabewerbung 1993 noch an einer Stimme, so war sie im Sommer 2001 auf der Moskauer IOC-Session erfolgreich: Peking erhielt den ersehnten Zuschlag auch deshalb, weil das Nationale Olympische Komitee Austragungsorte für die einzelnen Sportarten anbieten konnte, mit denen sich das ganze Land als Ausrichter der Spiele zu erkennen gab: So werden etwa die Segelwettbewerbe in der Hafenstadt und ehemaligen deutschen Kolonialdomäne Qingdao stattfinden und die Spring- und Dressurreiter in Hongkong an den Start gehen. Dass die Volksrepublik logistisch in der Lage sein wird, einem solchen Ereignis gerecht zu werden, daran zweifelt spätestens seit der Einweihung der Formel-1-Strecke in Shanghai niemand mehr.

Exodus der Arbeitsnomaden?

In Peking freilich werden die Gäste kaum noch das Flair und Ambiente der alten Kaiserstadt mit ihren verschachtelten Hutongs genießen können, denn die traditionellen Rundhöfe ohne Kanalisation, die noch bis vor wenigen Jahren einen Teil der Verbotenen Stadt umgaben, sind dem Untergang geweiht. Im Augenblick weichen die engen Straßenzüge um Qianmen, einem der letzten soziokulturell noch intakten Viertel hinter dem Tiananmen-Platz, glitzernden Shopping Malls. Ebenso wird das überkommene Peking der sechziger Jahre mit seinen Plattenbausiedlungen und Straßenzügen, die allein Omnibussen und Fahrrädern gehören, als nicht olympiawürdig empfunden - es gilt das Credo Karthasis, Entschluss, Erneuerung.

Der Olympic Boulevard, Pekings vierter, 2001 eingeweihter Autobahnring, auf dem die Sportler einmal bequem zu ihren Wettkampfstätten gelangen sollen, zieht sich wie ein breiter Asphaltwurm durch die Peripherie der Megacity und ist vorzüglich geeignet, das beanspruchte Renommee "Grüner Spiele" in Zweifel zu ziehen. Die achtspurige Ringtrasse ist wie die übrigen Ausfallstraßen bereits jetzt zur Rush-Hour hoffnungslos überfüllt. Jeden Morgen überträgt ein Lokalsender die Bilder der Überwachungskameras in Pekings Wohnzimmer und Büros. Staumeldungen sind so selbstverständlich wie die Wetterprognose. Zwar lässt ein fünfter "Périphérique" auf Entspannung hoffen, aber die Dunstglocke über Peking dürfte er weiter schließen helfen. Um dies nicht bis zum Zustand des ewigen Smoks voranzutreiben, sollen etwa zwei Drittel der über 70.000 Taxis und fast alle der 20.000 Omnibusse vor Olympia auf Erdgas umgerüstet werden. Doch anders als etwa in Shanghai, wo Nummernschilder für umgerechnet mehrere Tausend Euro ersteigert werden müssen, gibt es in Peking (noch) keine restriktive Zulassungspraxis - jeden Monat drängen Tausende von Fahrzeugen zusätzlich auf Boulevards und Trassen. Allerdings wird bereits laut über Ausnahmeregelungen während der Olympischen Spiele nachgedacht. Denkbar scheint ein System, nach dem Privatfahrzeuge - je nach Nummernschild - nur an geraden oder ungeraden Tagen benutzt werden dürfen.

Zhou Dongping ist auf dem vierten Stadtring unterwegs und steuert sein Taxi, einen violett-gelben Kia, mit schlohweißen Handschuhen. Die früher von der Innung bevorzugten bordeauxroten Jetta-Volkswagen haben seit 2004 beinahe komplett den südkoreanischen Limousinen weichen müssen. Zhou hat einen Englisch-Kurs belegt, denn jeder Taxichauffeur muss für seine Lizenz nicht nur die Namen von Straßen und Edelrestaurants herbeten können, sondern auch eine einfache Englisch-Konversation beherrschen: "Es wurden in Peking sogar schon die Verkehrsschilder verändert", erzählt er, "früher stand unter den chinesischen Schriftzeichen die englische Übersetzung, doch haben das die Ausländer kaum je verstanden." So tragen nun die Hinweisschilder die lateinische Umschrift Pinyin.

Neben den Vorhaben im Straßenbau treibt der Magistrat von Peking derzeit 15 "Verschönerungsprojekte", wie es offiziell heißt, voran. So müssen bis Mitte 2008 - neben dem bereits jetzt allgemein geltenden Rauch- und Spuckverbot auf Straßen, in U-Bahnen und Bussen - alle Fenstergitter von den Häusern entlang der Ringstraßen und rund um die für Olympia relevanten Areale verschwinden. Besitzer und Bewohner sind aufgefordert, die Diebstahlsicherung im Inneren anzubringen, damit die Gäste nicht durch den Eindruck, Peking leide unter einer überbordenden Kriminalität, irritiert werden. Eine zuweilen medial kolportierte Idee, während der Spiele die etwa eine Million Wanderarbeiter der Stadt zu verweisen, wird vom städtischen Olympia-Stab als reine Spekulation verworfen. Annähernd 25.000 dieser Arbeitsnomaden schuften augenblicklich auf den Großbaustellen für Olympia und für "Xin Zhingguo" - das neue China, das sich eben auch eine neue Hauptstadt leistet, wenn bis 2008 allein Pekings U-Bahn- und S-Bahnnetz von derzeit vier auf neun Linien erweitert wird und knapp 40 Milliarden Dollar in die expandierende Infrastruktur auf der Schiene fließen.

Peking wird regelrecht auf den Kopf gestellt, auch außerhalb der Stadtgrenze. Die Große Mauer in der nördlichen Provinz Hebei, wo bei Juyongyuan Ende Oktober 5.300 Freiwillige Fächer in den olympischen Farben schwenkten, um Empfangsbereitschaft und Vorfreude zu signalisieren, wird gleichfalls renoviert. Dies geschieht so aufwändig, dass zuweilen der Eindruck entsteht, Teile dieser Sehenswürdigkeit seien nicht vor 2.200 Jahren, sondern erst kürzlich errichtet worden. Die Formel Deng Xiaopings von Anfang der achtziger Jahre "Liebe das Vaterland und repariere die Große Mauer" hat eine gewisse Abwandlung erfahren, gilt aber unvermindert weiter.

Der architektonische und städtebauliche Herzstück der Spiele aber wird ein 1.135 Hektar großes Areal im Norden der Kapitale sein und auf der Glück verheißenden Achse mit der Verbotenen Stadt und dem Himmelstempel liegen. Hier entstehen unter anderem das Olympische Dorf, ein Nationales Kongress- und Pressezentrum sowie das Olympiastadion für 91.000 Besucher, das der Volksmund inzwischen - der Stahlkonstruktion wegen - "Vogelnest" getauft hat. Es hat bereits vor seiner Eröffnung einen weit besseren Ruf als das 2005 eingeweihte Nationaltheater des Architekten Paul Andreu unweit der Verbotenen Stadt, das in China als "das Ei" firmiert und auch international wenig Lob geerntet hat. Allerdings wurden die ehrgeizigen Pläne des Schweizer Architekturbüros Herzog de Meuron für das Olympiastadion bei manchen Komponenten ein wenig abgeschmolzen. Das Netzwerk aus Stahlträgern verschlingt zu viel teuren Stahl, lautete die häufigste Kritik chinesischer Experten. Als Ende September im Beisein des chinesischen Präsidenten Hu Jintao Richtfest gefeiert wurde, waren dann auch nur 40.000 anstatt der vorgesehenen 80.000 Tonnen Stahl verbaut worden. Das ändere freilich wenig an der Begeisterung für das neue Wahrzeichen der Stadt, meint Zhang Lingxia, der mit seinen Eltern aus Qingdao zur olympischen Großbaustelle gekommen ist. "Die Welt wird fasziniert sein", glaubt der Segeltrainer, "das ist unser neues China." Ein Wachmann öffnet bereitwillig das Tor des Bauzauns, damit Besucher das Stadion als Kulisse für Familienfotos nutzen können.

Eine Welt - ein Traum?

Sehr spät, erst bei den Sommerspielen 1932 in Los Angeles, debütierte die Republik China mit einer eigenen Equipe bei Olympia. Nach Helsinki 1952 erhielt der mittlerweile sozialistische Staat - Mao Zedong proklamierte die Volksrepublik am 1. Oktober 1949 - keine Einladung, und auch bei den nachfolgenden Spielen waren die Chinesen nicht vertreten, nun allerdings aus eigenem Antrieb, denn Mao Zedong boykottierte Olympia, weil das IOC den Erzfeind Taiwan quasi als "zweiten chinesischen Staat" anerkannt hatte. Die Abstinenz legte sich erst acht Jahre nach dem Tod des Großen Steuermanns mit der ansonsten vom gesamten Ostblock gemiedenen Sommerolympiade in Los Angeles 1984. Der erfolgreichste Sportler der chinesischen Mannschaft war seinerzeit der Turner Li Ning, der nach dem sportlichen Triumph inzwischen - exemplarisch für die Kommerzialisierung des Sports im Reich der Mitte - eine führende chinesische Sportartikelmarke besitzt.

Seither reüssierten chinesische Sportler neben Turnen vorzugsweise in Disziplinen wie Gewichtheben, Turmspringen oder Tischtennis. In Athen 2004 eroberten sie 32 Goldmedaillen und rangierten im Medaillenspiegel auf Platz zwei hinter den Vereinigten Staaten und vor Deutschland. Für 2008 deutet nun alles auf einen Zweikampf USA-China hin.

"Tongyi shijie, tongyi mengxiang" - One World, One Dream, lautet das Motto von Peking. Doch erst wenn die große digitale Uhr auf dem Platz des Himmlischen Friedens, die den Countdown bis zur Eröffnung der Spiele symbolisiert, stehen bleibt - oder auch erst, wenn das Olympische Feuer am 24. August 2008 wieder erlischt, wird die Welt wissen, ob es wirklich ein Traum war, der es verdient hat, von der ganzen Welt geträumt zu werden, wie sich das die Veranstalter wünschen. Sicher ist schon jetzt, nach diesen Spielen wird man wissen, was zu erwarten ist, wenn Shanghai die Weltausstellung - die "Expo 2010" - ausrichtet.


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