Ticking bomb

Deportation im eigenen Land Internierungen ohne Haftbefehl, Anklage und Prozess sind nur ein Symptom für Willkür und Rechtlosigkeit in den palästinensischen Autonomiegebieten

Im Militärcamp Ofer bei Ramallah rebellierten am Wochenende 700 palästinensische Gefangene nicht nur gegen demütigende Haftbedingungen. Sie wehrten sich dagegen, seit Monaten ohne Prozess interniert zu sein. Seit Ausbruch der jetzigen Intifada sind erneut Tausende Palästinenser in "Administrativhaft" genommen worden.

Adel Al Hidmeh, 41 Jahre alt, Vater zweier kleiner Kinder, ist Pharmazeut an der Jerusalemer Hebrew University, wo er zur Zeit eigentlich an seiner Dissertation arbeiten müsste, hätte ihn nicht am 25. September 2002 eine israelische Spezialeinheit festgenommen.

In den darauffolgenden Tagen wurde er unablässig verhört, manchmal bis zu 20 Stunden hintereinander. Die Vernehmer gaben ihm zu verstehen, sie seien ermächtigt, während der Befragung auch zu foltern, denn er sei als "ticking bomb" eingestuft. Man betrachte ihn als eine Person, "die möglicherweise über Informationen verfügt, deren Kenntnis, die israelischen Behörden in die Lage versetzt, eine unmittelbar bevorstehende Katastrophe zu verhindern". Die Verhöre enden am 23. Oktober, ohne dass es Anhaltspunkte für eine Verstrickung in irgendwelche Attentatspläne gibt - doch Adel Al Hidmeh bleibt in Haft. Die nächsten Wochen muss er in einer verdreckten Zelle mit einem verurteilten Kriminellen verbringen, der ihn ständig bedroht.

Dieser Fall beschreibt die Lage, in der sich schätzungsweise 1.700 Palästinenser befinden, deren Leben durch eine willkürliche Festnahme zerrissen wird. Sie alle unterliegen der sogenannten "Administrativhaft" - einer Bestrafung ohne Anklage und Urteil, nur per Militärdekret, das anordnet, eine Person bis zu sechs Monate in Arrest zu nehmen. Danach kann die Haftzeit beliebig oft und ohne Begründung verlängert werden, so dass ein Gefangener theoretisch für Jahre unter Verschluss bleibt. In die geheimen Beweisdossiers der israelischen Armee, mit denen die Maßnahmen begründet werden, dürfen weder Gefangene noch Anwälte Einsicht nehmen. Obwohl "Administrativhaft" nach internationalem Recht unzulässig ist, werden Palästinenser immer wieder auf diese Weise kollektiv bestraft. Eine Praxis, die auf plumpe Abschreckung setzt, um dem politischen Widerstand gegen die Besatzung zu brechen und mit dem Stigma des steten Terrorismusverdachts zu versehen.

Zu den 1.700 Gefangenen in "Administrativhaft" kommen Tausende, die ebenfalls ohne Haftbefehl festgenommen wurden, seit am 29. März 2002 die israelischen Militäroperationen in der Westbank begannen. Die meisten kamen nach wenigen Tagen wieder frei, manche aber blieben interniert, was die Israelis veranlasste, Lager aus der Zeit der ersten Intifada Ende der achtziger Jahre - wie Ofer bei Ramallah - wieder zu öffnen, als Provisorien mit oder ohne Zeltstadt, auf alle Fälle von Stacheldrahtwällen umhegt. Ärzte und Anwälte haben nur sporadisch Zugang zu diesen Camps, von den Familien ganz zu schweigen.

Folterungen sind während der "Administrativhaft" nicht ausgeschlossen - trotz eines einschränkenden Urteils des Obersten Gerichts von 1999. Israel gehört bekanntlich zu den wenigen Ländern, die "gewisse Formen von körperlicher Gewalt" in ihrem Strafrecht ausdrücklich vorsehen. 1999 wurden im erwähnten Urteil die Bedingungen für Verhöre unter Zwang mit dem Begriff "ticking bomb" umrissen - ein Begriff, der sich in Zeiten von Intifada und Terror-Angst tendenziell auf jeden Palästinenser anwenden lässt. Da die palästinensische Bevölkerung durch dieses Vorgehen ständig in Angst und Verunsicherung lebt, beeinträchtig das auch die wenigen noch vorhandenen Möglichkeiten, auf konstruktive und friedliche Weise Widerstand gegen die Besatzung zu leisten. Dennoch - das muss immer wieder gesagt werden - gibt es nur sehr wenige, die unter diesem Druck in der Gewalt den einzigen Ausweg sehen.

Die politische Kontrolle der Palästinenser per Repression und Strafrecht ist weder von der EU noch den USA je in Frage gestellt worden. Die Verträge von Oslo haben daran nichts geändert - im Gegenteil, sie haben sanktioniert, dass die Westbank und Gaza nach wie vor den Status geschlossener, von den Israelis beherrschter Militärzonen haben, in denen das Kriegsrecht gilt. Genau genommen haben die Bewohner dieser Regionen jeglichen Rechtsschutz verloren. Sie müssen erleben, dass es kein Gesetz, keine Gremien, keine Institutionen mehr gibt, die sie anrufen könnten und die für sie einstehen würden - sie sind im Prinzip vogelfrei.

In einer solchen Situation klingen die Reform-Appelle von Architekten und Sponsoren des "Friedensprozesses" an die Adresse der Palästinenser so erhaben wie zynisch. Israelischen, amerikanischen und europäischen Politikern fällt plötzlich auf, dass die Autonomiebehörde korrupt und undemokratisch ist, während man jahrelang, als das System Arafat gut genug war, jede Opposition in den Autonomiezonen niederzuhalten, nur am fahrlässigen Umgang mit EU- oder UN-Geldern Anstoß nahm. Die methodische Missachtung rechtsstaatlicher Normen und die schweren Menschenrechtsverletzungen, die von der Autonomiebehörde im Vollzug israelischer Sicherheitsauflagen (und selbstredend im Interesse eigenen Machterhalts) begangen wurden, haben die europäischen und amerikanischen Paten des "Oslo-Prozesses" kaum je gestört.

Während von einer schwer getroffenen palästinensischen Gemeinschaft und ihrer jämmerlichen Administration, die nun ebenfalls zerstört ist, Reformeifer verlangt wird, erlaubt man Israel weiterhin ungestraft, politische Führer Palästinas auf die eine oder andere Art "aus dem Verkehr zu ziehen". Man denke an den Fatah-Politiker Maruan Barghouti oder an Ahmed Saadat, den Vorsitzenden der PFLP (Popular Front for the Liberation of Palestine), der humanistische Vorstellungen von einem binationalen Staat der Araber und Juden vertritt. Saadat sitzt seit Monaten ohne Anklage im Gefängnis der Palästinensischen Autonomiebehörde in Jericho unter angloamerikanischer Bewachung. Wollte er seine Arrestzelle verlassen, wie ihm das inzwischen der Entscheid eines palästinensischen Gerichts anbietet, käme das einem Todesurteil gleich. Die Israelis haben ausdrücklich angekündigt - Saadat müsse mit allem rechnen.


Informationen über die Lebens- und Menschenrechtssituation und zivilgesellschaftliche Interventionsmöglichkeiten: www.palestinemonitor.org

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