Brechts Heilige Johanna ist ein großer Wurf, den man in der Inszenierung von Claus Peymann am Berliner Ensemble nun wieder entdecken kann. Aktuell ist das Stück seit seiner Entstehung 1930 immer gewesen und bis heute geblieben, und darüber hinaus ist es unvergleichlich poetisch. Gründgens hat es mit Hanne Hiob in der Titelrolle 1959 uraufgeführt, es war ein Riesenerfolg am Hamburger Schauspielhaus. 1968 gab das BE unter Wekwerth und Tenschert eine Marxistische Leseart. Unvergesslich ist auch Benno Bessons Version am Zürcher Haus, die wohl bisher blutvollste und artistischste Version. Sie wurde auch in Berlin gezeigt und enthusiastisch gefeiert.
Dass die Bessonsche Fassung der Maßstab geblieben ist, scheint auch bei Claus Peymann offensichtlich. Denn der Re
lich. Denn der Regisseur geht alles andere als abstrakt, sozusagen "rein episch" mit Schrifttafeln und diversen V-Effekten vor. Peymann inszeniert Brecht als Tragödie mit bitter-komischem Schluss, der an opulent-ironischer Feierlichkeit kaum zu übertreffen ist (Bühne und Licht: Achim Freyer). Die heilige Johanna der Schlachthöfe ist hier freilich keine Tragödie, die Reinheitsgeboten entspricht, in der das leidende Individuum in ausweglose, unüberwindliche Situationen gerät und scheitert, sondern sozialökonomisch fundiert. Das Maß des Menschen, sein Handeln, sein Erfolg, sein Untergang wird hier bestimmt von der Kluft zwischen oben und unten, von den Zwängen des Marktes, von Gesetzen, die ein freies, individuelles, assoziiertes Handeln unmöglich machen. Johanna mitsamt ihren Mit- und Gegenspielern ist solchen Strukturen ausgesetzt und endet als ohnmächtiges, hilfloses Wesen, nunmehr dem Kapital zu Diensten als Kultfigur, als ewige Helferin vor Gott und allen Himmeln. Wo es sich anbietet , leuchtet Peymann hinein ins Publikum, um namhaft zu machen, wo die da oben und die unten und die in der Mitten sitzen, spricht die Täter und die Opfer, die Leidenden und Unleidlichen direkt an, damit Denken einsetzt.Johanna Dark, der erschrockene Engel von der sangeslustigen Heilsarmee, der sich mit seiner ganzen Individualität den schmutz- und bluttriefenden Schlachthausverhältnissen aussetzt und bessern und lindern will, fällt jedes Mal von einem Schreck in den anderen. Meike Droste verkörpert diese fröhliche, engagierte, zuletzt desillusionierte Johanna in all ihren Schattierungen. Mannigfache mimetische Temperaturen weiß sie zu adressieren. Anfangs kindlich-verwegen, dem lieben Gott zugewandt, marschiert sie mit ihren Heilsarmisten trommelnd in die Hölle der Schlachthausindustrie, um den dort Ausgeplünderten, Verlassenen und Verachteten den Himmel zu bringen. Die Droste als Johanna weiß dabei ihre kreative Naivität auszuspielen, diese wertvollste aller schauspielerischen Tugenden. Sie hält Distanz zu ihrer Rolle und gibt sie gleichwohl ganz individuell, natürlich, lebensecht. Religiös-eifernd heftet sie ihren Blick an den einzelnen und predigt diesem, dass nur er selbst aus seiner Ohnmacht, seinem Elend herauskomme. Aber sie merkt alsbald, das funktioniert nicht. Ausgerechnet bei Mauler, dem Kapitalguru und größten Auspresser unter den Auspressern des Schlachthauskomplexes, sucht sie Antwort. Sie fürchtet sich nicht, sie will ihm entlocken, woher das Elend komme, weswegen die Fabriken leer stehen, die Viehzüchter kein Vieh haben, die Büchsenhersteller keine Füllung, die Fleischer kein Fleisch, der Mittelstand deswegen keine Perspektive hat, die Arbeiter weder Arbeit noch Lohn haben. Die Droste als Johanna sieht die Armen, erschrickt vor dem Elend, sie will vermitteln, die Spannungen mildern, oben und unten versöhnen, aussöhnen, aber all das gelingt nicht. Weder von Mauler noch von den Arbeitern erhält sie befriedigende Antworten, weswegen sie mehr und mehr zweifelt. Brecht hat dieser Figur nichts Marxistisches eingeträufelt. Johanna ist blind gegen die hinter ihrem Rücken wirkenden politökonomischen Gesetze. Den umgekehrten Fall zu vermuten, wäre ein arger Witz. Die Heilige, Unheilige glaubt stattdessen, der Kapitalist sei schlecht, unmenschlich, charakterlos: Er schaukelt oben die Beine und verschaukelt die da unten. Als proletarische Gewalt sich meldet, über scharfe Sprechchöre intoniert und zugespitzt, schreckt sie zurück.Mauler - Manfred Karge ist die Rolle auf den Leib geschneidert - ist dagegen Realist, wenn auch ein gespielt weinerlicher, melancholischer. Mauler will die Gewalt, die auf seiner Seite ist. Freilich tritt er nicht als dynamischer Junghirsch auf, sondern als alter Profithai mit blutverschmiertem Gesicht und den abgefeimtesten Gewinnstrategien im Speicher. Er ist die Verkörperung des großen Kapitals schlechthin. Im Schlachthauspoker sieht er sich nie ernstlich in Gefahr, steht nie vor seiner eigenen Beseitigung, sondern er hohnlacht über den Niedergang der Konkurrenz. In jeder Faser seines Selbst beherrscht er sich und die Dinge, ein Kapitalist von Kopf bis Fuß und zugleich ein Mensch in der herabgesunkendsten Form, Jammerlappen, so nass und stinkend, dass sich in ihm all die falschen Gefühle enthüllen, die Menschen seiner Couleur in sich haben. Karge spielt diese Figur grandios. Er nimmt den Mauler als wahrhafter Bühnencharakter, und je ironischer ihm das gelingt, je mehr Züge verleiht er dem Mauler, die wir sympathisch zu nennen pflegen. All seine Künste darf Karge in dieser großen Rolle entfalten: die Luftblasen, die er jedes Mal ausstößt, wenn Johanna fürbittet; wie er den ökonomischen Halunken versinnlicht, wenn er mit seinem Makler Slift (Veit Schubert) die geschäftlichen Fäden zieht; wie er das emotionale Schlitzohr durchblicken lässt, wenn das Schwein und der Gutmensch mit einer Zunge reden, sich der Melancholiker und der Blutsauger zur Einheit schweißen. Wenn Karge als Mauler weint und zugleich die Messer wetzt, wenn er leidet und gleichzeitig den Gewinn abzählt, weiß sich der Zuschauer zwischen Mitlgefühl und Verachtung kaum zu entscheiden.Peymann inszeniert die Johanna sorgfältig und genau und im gleichen Moment freizügig und luftig, so dass ein jeder, der auf der Bühne ist, das Seine geben kann. Wie gesagt, die Johanna nimmt Peymann als Tragödie in dem Wissen, dass dazu immer auch Spaß, Derbheit, Komik und Spott gehören. Volkstümliche, tragödienhafte Züge hat die Vorlage reichlich. Die Regie nutzt sie, reichert sie an, entwickelt sie. Das Figurenwerk ist prall gefüllt mit Alltag, mit Zügen aus dem wirklichen Leben, mit religiösen Symbolen, mit Metaphern aus dem modernen Schlachthausmilieu, auch mit poetisch geformten Theoriefragmenten. Bildkräftig, chorisch, gefährlich kommt der Arbeiterwiderstand bei Peymann zur Geltung. Und das Finale erscheint geradezu opernhaft: Große Chöre stimmen den Hymnus auf einen geläuterten Kapitalismus an. Mauler ist der große Läuterer. Alles werde gut. Johanna dagegen: Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht. Die Tugend obsiegt in den grellsten, knalligsten, ironischsten Farben. Demagogie als Popart.
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