Die Anfang Juli vorgestellten Eckpunkte zur Gesundheitsreform sind das Dokument eines verschobenen Systemwechsels. Die Lösung der Probleme, die die gesundheitspolitische Debatte geprägt haben, wird vertagt auf die Zeit nach der großen Koalition. Nicht in Sicht ist der Weg in eine nachhaltigere und gerechtere Finanzierung der Krankenversicherung und - damit eng verbunden - die Schaffung fairer Wettbewerbsbedingungen zwischen gesetzlicher (GKV) und privater Krankenversicherung (PKV) bzw. die Aufhebung des unsinnigen Nebeneinanders beider Systeme. Für beides findet sich in den Eckpunkten keine Lösung. Andere Einkommensarten, wie zum Beispiel Zinseinkünfte, werden nicht herangezogen; auch die Arbeitgeber können nicht direkt von der Reform profitieren. Der Plan, familienpolitische Leistungen der GKV nun aus Steuern zu bestreiten, ist eher symbolischer Natur - die Finanzierung ist ohnehin ab 2009 ungeklärt. Von einer Anhebung der Beitragsbemessungs- oder gar einer Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze ist keine Rede mehr. Die Verhältnisse zwischen GKV und PKV bleiben festzementiert wie zu Zeiten Bismarcks, als die gesetzlichen Kassen nur für die Armen da waren und der Rest für sich selber sorgen musste. Selbst der geplante PKV-Regeltarif - ohne Gesundheitsprüfung, aber mit Altersrückstellung und das Ganze zu bezahlbaren Prämien -, ein Tarifwunder aus der Hexenküche versicherungsmathematischen Wunschdenkens, beendet nicht die Rosinenpickerei der Privaten, die auf junge und gutverdienende, kinderlose Arbeitnehmer abzielt. Von den Nicht-Versicherten abgesehen, steht auch dieses Angebot nur denjenigen offen, deren Einkommen oberhalb der Bemessungsgrenze liegen. Die privat Versicherten - nicht unbedingt die privaten Versicherungen - könnten die eigentlichen Gewinner der Reform sein. Sie sollen wie heute schon jeder GKV-Versicherte den Anbieter ohne Verlust wechseln können. Es sei ihnen gegönnt! Aber war dies das Ziel der großen Gesundheitsreform?
Fast unbemerkt hat die große Koalition ein anderes Terrain als Reformschlachtfeld ins Visier genommen. Während grundlegende Fragen der Finanzierung offen bleiben, verlegt sich das Eckpunktepapier auf bedeutsame Veränderungen der Entscheidungsstrukturen in der Selbstverwaltung. Nur so macht der ominöse Gesundheitsfonds Sinn, der nachweislich keines der Finanzierungsprobleme löst, aber die Einnahmen der GKV weitgehend unter die Kontrolle einer halbstaatlichen Regulierungsbehörde bringt. Gleichzeitig werden die Krankenkassen einer einheitlichen Verbandsstruktur unterstellt, die Kassenarten (AOK, Ersatz-, Betriebs- und Innungskrankenkassen) praktisch aufgelöst. Schließlich soll auch der Gemeinsame Bundesausschuss "professioneller", das heißt von den Einzelinteressen der Krankenkassen, Ärzte, Krankenhausträger emanzipiert, "weisungsunabhängig" arbeiten; ergänzt um eine verschärfte Aufsicht des Staates.
Unbestreitbar bedarf es einer Reform der bisherigen Selbstverwaltung. Man kann und sollte über die Effizienz und Legitimation der unterschiedlichen Selbstverwaltungsorgane (Krankenkassen, Kassenärztliche Vereinigungen, Gemeinsamer Bundesausschuss u.a.) streiten - ob indes der sich abzeichnende Rollenmix des Staates als Teilfinanzier, Ressourcenverwalter und schließlich Aufsichtsbehörde die dortigen Probleme zu lösen vermag, ist diskussionswürdig. Zugespitzt könnte man sagen: Es kündigt sich der Abschied vom Prinzip der Subsidiarität und der Einstieg in ein halbstaatliches Gesundheitssystem an. So hätte die Koalition nun doch einen "dritten Weg" zwischen Bürgerversicherung und Kopfprämie gefunden, die Mischung aus skandinavischem und niederländischem Modell. Denn unter der Glocke staatlicher Regulierung bricht vielleicht bald ein dynamischer, ja mörderischer Wettbewerb aus. Da den Krankenkassen aus dem Fonds ein mehr oder weniger risikoadjustierter Pauschalbetrag für jeden Versicherten überwiesen wird, müssen sie - wie heute schon die Krankenhäuser - mit dieser Fallpauschale wirtschaften. Der Selektionsdruck im Hinblick auf den Krankheitsgrad bzw. die Passgenauigkeit der Versicherten für attraktive Fallgruppen wird sich nun auch bei den Krankenkassen verschärfen. Alle darin nicht erfassten Leistungsausgaben schlagen sich wie in einem Preis unmittelbar in dem geplanten zusätzlichen Versichertenbeitrag nieder. Diese "kleine Kopfprämie", mit der die Wechselbereitschaft der Versicherten angeheizt werden soll, dürfte sich indes gerade bei den Versorgerkassen (Barmer Ersatzkasse, DAK, AOKen) bald zu einer "großen Kopfprämie" entwickeln. Krankenkassen, die ihre wachsende Gestaltungskompetenz im Leistungsgeschehen zugunsten einer qualitativ besseren und damit zumindest kurzfristig teureren Versorgung der Patienten nutzen, hätten in einem derart verschärften Wettbewerb zunächst das Nachsehen gegenüber den zwar billigen, aber in der Versorgung leichtgewichtigen Kassen. Zu befürchten ist, dass der erwünschte Wettbewerb um bessere Qualität und Effizienz sich auf einen reinen Kostenwettbewerb reduziert. Wir wissen aber aus anderen Branchen, dass die Ausrichtung großer Systeme der Daseinsvorsorge auf kurzfristige betriebswirtschaftliche Erlöse eine nachhaltige Entwicklung des Systems insgesamt eher gefährdet als voranbringt.
Stefan Etgeton ist Gesundheitsreferent beim Verbraucherzentrale Bundesverband.
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