Rohr im Wind

Wahlkampf Die SPD verschläft die inhaltliche Debatte und orientiert sich nur am Machterhalt. Ihr fehlen Analyse, Charme und plausible Projekte. Das könnte ein böses Erwachen geben.

Brave Genossen können es nicht fassen: Seit Monaten schlittert die Union durch die Finanzkrise, während der SPD-Finanzminister die Krise managt und der SPD-Kanzlerkandidat das Konjunkturprogramm durchsetzt. Aber wer profitiert? Die FDP. Und die Sozialdemokraten hängen bleischwer bei 25 Prozent fest. Dabei ist die Partei seit Franz Münteferings Antritt wieder zur Ruhe gekommen, sie ist – notgedrungen, weil mit Blick auf die Wahlen – geschlossen wie lange nicht mehr. Warum wird das nicht honoriert?

Viele führen aktuelle Gründe an: Die Union stellt die Kanzlerin, die SPD hatte „Hessen“. Aber nur ideologisch Bornierte oder politisch Befangene können behaupten, dass die Sozialdemokraten erst durch Hessen in demoskopische Tiefen gestürzt sind. Die Ursachen liegen tiefer und länger zurück – und wenn sich die SPD-Führung dieser Geschichte weiterhin nicht stellt, wird sich nichts ändern.

Der erste heftige Absturz in der Wählergunst kam 1999 – nicht zufällig nach dem unerklärten, für viele unbegreiflichen Rücktritt des SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine. Von den nachgeschobenen Erklärungen blieb nur eine im Gedächtnis: die von der SPD als zwei Parteien, die 1998 als Doppelpack antrat – mit Lafontaine als Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit und Gerhard Schröder als Garant für ökonomische Modernisierung. Dabei ist das Bild älter: Der Politologe Franz Walter beschreibt in Baustelle Deutschland, wie sich die SPD in den siebziger und achtziger Jahren von der arbeitnehmernahen Volkspartei zur Milieupartei des öffentlichen Dienstes verengte, wie dabei die Verbindungen zur Arbeiterschaft, damit zum Bündnispartner Gewerkschaften, zur Unterschicht, aber auch zur Intelligenz, zu Freiberuflern, Freigeistern und Querdenkern dieses Landes gelöst wurden.

Am Ende stand eine Partei, in der der Pragmatismus der Bildungsaufsteiger und „Juso-Enkel“ die SPD-Spitze erobert hat, ausgestattet mit pflegeleichten, unauffälligen Mandatsträgern, einer Funktionärsschicht aus Büroleitern sowie einer überalterten, ermüdeten Basis. Sie alle haben Franz Münteferings Satz „Opposition ist Mist“ verinnerlicht und sind bereits 1998 – so sie schon dabei waren – ohne große Visionen in das rot-grüne „Projekt“ eingestiegen. Dieses war auf SPD-Seite nie eine Liebesheirat und die Partei hat die Enttäuschung vieler rot-grün gesonnener Fellow-Traveller im akademisch-kulturellen Milieu kühl in Kauf genommen.

Randglossen der Parteilinken

Die Agenda 2010 und dessen Kernstück Hartz IV setzte der Kanzler, beraten von einer winzigen Kerngruppe seines Umfeldes, gegen alle Widerstände durch. Mit Basta-Worten für die Bösen, Vorstandsposten für die Guten und Rücktrittsdrohungen für den ganzen verstockten, minderbemittelten Verein. Als die SPD-Linke sah, dass sie Schröder nicht aufhalten konnte, ergab sie sich in ihr Schicksal und begnügt sich seither mit kritischen Randglossen zu Vorhaben der eher rechten SPD-Spitze.

Daran hat sich seither nicht viel geändert: Statt Schröder gibt sein Kanzleramtsminister Frank-Walter Steinmeier, Vater der Agendapolitik, den Ton an. Ihm hält Müntefering als getreuer Eckehard die Partei ruhig, wie einst bei Schröder. Die Sache hat jedoch einige Haken: Einer davon ist die weitgehende inhaltliche Leere des aktuellen Kurses. Wenn es richtig ist, dass es der SPD vor allem darum geht, „nur nicht auf die Oppositionsbank“ zu kommen, dann bräuchte man konkrete Projekte, um das bei den Bürgern verlorene Vertrauen wiederzugewinnen und den passenden Partner, um sie umzusetzen.

Der zweite Haken heißt daher Linkspartei. Über den Umgang mit der neuen Konkurrenz sind die SPD-Anhänger gespalten: Kunststück, wenn der einzige halbwegs ernsthafte Bündnisversuch in Hessen auch wegen massiver Anti-Kampagnen der Bundes-SPD so desaströs scheiterte. Nie war die Einmischung des Bundes so krass, nie wurde nachher so laut und peinlich berührt darüber geschwiegen. Wer etwa dem SPD-Fraktionschef Peter Struck gratulierte, als er die hessische „Gewissenstäterin“ Dagmar Metzger lobte, hatte verdrängt, wie Struck einst mit der sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten Christa Lörcher verfahren war, als diese aus pazifistischen Gründen den Afghanistan-Einsatz ablehnte. Am Ende verließ sie Parlament und Partei, weil „ein einzelner Abgeordneter nicht einer für das ganze Land wichtigen Entscheidung im Weg stehen kann“ (Struck).

Der gesamte rechte SPD-Flügel legte sich in jenen hessischen Entscheidungswochen im Frühjahr 2008 öffentlich ins Zeug, weil hier die Grundlagen der informellen großen Koalition in Gefahr gerieten, die Schröder schon 2003 begründet hatte. Der damalige Kanzler hatte sich angesichts der Unionsmehrheit im Bundesrat sukzessive von seinem Koalitionspartner abgesetzt und war zur informellen Kooperation mit der Union übergegangen. Für die tonangebende Parteirechte war dies bequem, weil sie ihre Vorhaben mit diesem Partner durchbringen, zugleich aber jene der Parteilinken blockieren oder verwässern konnte. Hartz IV dokumentierte schließlich das Bündnis: Der Reform stimmte die Union in Bundestag und Länderkammer zu und sicherte so die Gesetze gegen die Proteste von Gewerkschaften und vielen Ostdeutschen ab. Das Regieren war seitdem für Modernisierer bequem: Im Bündnis mit der Union deregulierten sie – moderat – die Republik.

Dafür war die SPD aber weder 1998 noch 2002 gewählt worden und Schröder konnte nicht erklären, warum dieser Kurs alternativlos sein sollte. Nach der Niederlage der Sozialdemokraten bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Mai 2005 zogen er und Müntefering deshalb die Notbremse und setzten Neuwahlen an. Damit war der Kurs offiziell auf große Koalition gesetzt. Und der geniale Straßenwahlkämpfer Schröder bahnte in Kombination mit einer überheblichen Union der SPD den Weg in diese vermeintliche Gewinngemeinschaft.

Keine Strategie, nur Taktik

Fast vier Jahre später steckt die SPD in einer mehrfachen Zwickmühle: Sie besteht aus zwei Parteien, aber ein Flügel besetzt fast alle Kommandohöhen – nur vereinzelte Alibilinke spielen brav mit. Zugleich ist die Stimmung im Land nach links gekippt, nach dem Scheitern des „Kasinokapitalismus“ erwarten die Bürger mehr soziale Sicherheit und Lösungen vom Staat. Dies ist aber weder mit dem Partner der großen Koalition noch mit dem Ampelpartner FDP zu machen. Weil die rechte Agenda teils abgearbeitet, teils beim Bürger unbeliebt ist, und die linke Agenda – Bürgerversicherung, Mindestlöhne, Verstaatlichung – nur mit der Linken zu machen wäre, schwankt die Partei im Wahljahr wie ein Rohr im Wind. Mal ist von „Lagerwahlkampf“ die Rede, mal von einer Ampel. Mal wird die Linke gebraucht – etwa in den Ländern und der Bundesversammlung, mal wird die Partei „nationaler sozialer Politik“ geziehen – eine bewusste Provokation, die eine Brandmauer für die eigene Linke ziehen soll. Keine Strategie, sondern Taktik, eine Position sieht anders aus. Über die SPD kann man derzeit alles behaupten, nur nicht, dass sie eine klare Analyse von Gesellschaft, praktikable Alternativen jenseits des Mainstreams, drei oder vier plausible Projekte, oder gar etwas Charme besitzt.

Denken etwa noch mehr in der SPD wie ein Berliner Ex-Parteichef, der meinte, man könne sich „Inhalte, Programmdebatten und Beteiligungsspiele“ schenken? Motto: „Wir sind so schlecht, wir können nur noch regieren.“ Das wäre weder sozial noch demokratisch, sondern dicht am Wort des italienischen Premiers Giulio Andreotti: „Die Macht verschleißt den, der sie nicht hat.“

Sicher, die SPD muss jetzt kämpfen. Ganz im Stillen sollte sie sich aber – mehr als 2002 oder 2005 – dringend ein paar Gedanken machen, was sie tun will, falls sie keine Macht mehr hat und plötzlich neben linken Konkurrenten auf den harten Bänken der Opposition aufwacht.

Stefan Grönebaum, Jahrgang 1962, ist Historiker und Journalist. In der SPD hat der Parteilinke seine Erfahrungen sowohl auf kommunaler als auch auf Landesebene gemacht. Beruflich befasst sich Grönebaum seit einiger Zeit vor allem mit Kommunalpolitik

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