Jedes nicht aufgeklärte Verbrechen bedeutet aber, dass ein Täter seiner gerechten Strafe entronnen ist", heißt es weise in einem Kommentar zu Friedrich Dürrenmatts Roman Das Versprechen. In dem verstörenden Text wird in einem beschaulichen Ort bei Zürich ein Schulmädchen ermordet. Der ermittelnde Kommissar allein weiß bzw. spürt, dass der Gefasste nicht der Täter war und sucht nach seiner Pensionierung auf eigene Faust weiter nach dem Verbrecher. Er kann damit nicht aufhören, hat er doch um den Preis seines Seelenheils der Mutter des ermordeten Kindes versprochen, dass er den Schuldigen finden wird.
Manchmal wird Literatur beängstigend real. Anlässlich der 350. Ausgabe des Fernseh-Klassikers Aktenzeichen XY ungelöst trat letzten Freitag Eduard Zimmermann noch einmal vor die Kamera. Vor fünf Jahren ist der inzwischen 73-jährige Erfinder der bekannten Sendung abgetreten, mit deren Hilfe immer noch durchschnittlich 40 Prozent aller vorgestellten Verbrechen, bei denen die Polizei ohne Zuschauerhilfe nicht weiter kommt, aufgeklärt werden können. Doch wer sich anlässlich des stolzen Jubiläums heiter-besinnliche Worte erwartete, sollte sich bald wundern. Zwar warf der jetzige Moderator Rudi Cerne, der früher für seine Eiskunstläufe bekannt war, Eduard Zimmermann einige Worte der Anerkennung nach dem Sie-können-auf-sich-stolz-sein-Motto zu. Doch der Angesprochene wiegelte rasch ab und kam gleich zur Sache: Er müsse sich heute noch einmal an das XY-Publikum wenden, weil ihm ein Fall aus dem Jahr 1981 keine Ruhe lasse. Zwar habe er in seiner langen Zeit als Moderator der Sendung viel Furchtbares gesehen. Doch bei seinem persönlichen Anliegen handelt es sich um "den schlimmsten Fall", der ihm je untergekommen ist, "den heimtückischen Mord an einem zehnjährigen Kind, der mich seit 21 Jahren verfolgt". Ein Unbekannter hat damals ein junges Mädchen auf dem Nachhauseweg vom Sportunterricht abgepasst und entführt. Er steckte es in eine im Waldboden vergrabene Holzkiste, um danach Lösegeld zu fordern. Doch dazu kam es nicht, denn sein Opfer erstickte in dem engen Gefängnis qualvoll. In bewegenden Worten sagte Zimmermann, ihn habe das tote Kind damals so voller Angst und voller Erwartung angesehen, dass "ich mein Versprechen gegeben habe, dass der Täter gefunden wird".
Der XY-Gründer gab sich durch diese Äußerung als typischer Vertreter unserer Gesellschaft zu erkennen, für die Kindesmisshandlung das Schlimmste ist, weil sie an ihre Wurzeln rührt. Es steht außer Zweifel, dass dem jungen Mädchen Furchtbares angetan worden ist. Doch überkommt den Zuschauer ein flaues Gefühl, wenn Zimmermann mehrfach dezidiert von Mord spricht - selbst der wieder gezeigte Kurzfilm über das Verbrechen von 1982 führt vor, dass der Entführer Belüftungsschlitze in sein enges Gefängnis einbaute, die allerdings viel zu klein waren. Noch einmal sei gesagt: Die Entführung und der klaustrophobische Gefängnisbau sind verabscheuungswürdig. Aber darf der Fernsehkriminalist deswegen den Gesuchten im Vorfeld schon als Mörder verurteilen, dessen Tat "nie verjährt"? Schließlich hat der Entführer den Tod des Kindes wahrscheinlich oder zumindest möglicherweise nicht gewollt. Auch wird Zimmermann doch nicht selber beim Tatort gewesen sein, sondern das Gesicht des Opfers lediglich von Bildern kennen. Diese müssen auf seine Psyche so suggestiv gewirkt haben, dass sie aus den misshandelten Leichen zahlloser anderer Fälle herausragten. Warum ein körperlich unversehrtes, totes Kind ungleich mehr Mitleid, Zorn und Verzweiflung erwecken kann als ein auf furchtbare, entstellende Weise erschlagener Mann, lässt sich nur durch unsere kollektive, christlich geprägte Wahrnehmung erklären. Kinder sind per se unschuldig, und die Unschuld zu verletzen bedeutet den schlimmstmöglichen Tabubruch.
Davon unabhängig wünschten in diesem Moment wohl alle Zuschauer, der Entführer möge nach all den Jahren doch noch gefasst werden. Zimmermanns Anliegen ist seine Berechtigung ja nicht abzusprechen. Und obwohl für die erfolgreiche "freundliche Mitwirkung" zum Auffinden des Täters 50.000 Euro ausgesetzt sind, ist es allein dem Sendungsgründer zu verdanken, wenn sich der Erfolg doch noch einstellen sollte. Denn sein inständiges Bitten um Mithilfe glich dem verstörenden Dürrenmattschen Wunsch nach Wiederherstellung des Seelenheils.
So sprach Neumoderator Cerne im späten, kurzen zweiten Teil von XY ungelöst dann erwartungsgemäß auch von "unglaublichen Reaktionen" auf den Auftritt des Seniors - die Telefonleitungen seien gerade dabei, zusammenzubrechen. Niemand solle sich davon aber abhalten lassen, sondern es bitte einfach später noch einmal versuchen. Zimmermann habe einer Frau sogar die Zunge lösen können, die bislang trotz eines "schrecklichen Verdachts" beharrlich zu der Kindesentführung aus den achtziger Jahren geschwiegen habe. Bislang ... Unter den aktuellen Meldungen auf www.aktenzeichenxy.de ist dieser Tage zu dem Fall noch nichts Neues zu lesen, aber vielleicht erfährt man es erst in der nächsten Folge. Denn eines ist sicher - Hunderttausende warten darauf.
Es passt zu der Serie, die immer noch vier bis fünf Millionen Zuschauer hat, dass sie auch - ja gerade - an ihrem Geburtstag nicht feiert, sondern hart arbeitet. Mehr Unbeschwertheit als ein zaghaftes Lächeln zwischen den Sorgenfalten über die Schattenseiten unserer Gesellschaft wäre ihr nicht angemessen. Schließlich versteht sie sich seit ihren Schwarz-Weiß-Anfängen von 1967 als Ernst-des-Lebens-Teil im Unterhaltungsgetriebe, der die sonst so passiven Zuschauer aktiv machen soll. "Der Bildschirm wird zur Verbrechensbekämpfung eingesetzt", sagte Zimmermann damals in der für diese Zeit üblichen, autoritär-holprigen Sprache, der MTV so fremd war wie der Mars. Auch heute zieht sie daraus noch ihre Anziehungskraft.
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