Schule des Herzens und der Augen Für sein eindringliches Porträt eines Zwergschullehrers, "Être et avoir", erhielt der Franzose Nicolas Philibert den europäischen Dokumentarfilmpreis. Das Berliner Kino Arsenal zeigt nun eine Werkschau
Die Bauern treiben ihre Kühe über die schneeverklebte Wiese, mit sanften Worten. Die Szene dauert aber lang genug, bis man bemerkt, dass hinter dem netten Klang der stets weitertreibenden Stimmen auch ein gehöriges Maß an Aggression steckt: Du hast keine andere Wahl, als diesen Weg zu nehmen, Kuh. Du gehst dahin, wo ich dich haben will. In der nächsten Szene schieben sich zwei kleine Schildkröten langsam quer durch ein nächtlich leeres Klassenzimmer. Der Raum mag den beiden unendlich groß vorkommen, er ist doch begrenzt. Und morgen früh - so ahnt man es - kommen sie wieder in ihre Glaskasten-Zelle. Nach dem nächsten Schnitt fährt ein kleiner Schulbus durch die kalte Landschaft und sammelt von einem Hof nach dem anderen Kinder ein. Sie
ie sitzen eng beisammen, bis der Wagen direkt vor der Schule hält und sie die wenigen noch verbleibenden Schritte ins Klassenzimmer hüpfen. In möglichst gerade gestreckter Haltung stehen sie dann vor ihren Stühlen, bis der Lehrer "Setzt euch!" sagt. Milde und doch im Kommando-Ton.Was nun folgt, wird mit keinem Wort vorab erzählt. Der Zuschauer in Nicolas Philiberts neuem, soeben mit dem Europäischen Dokumentarfilmpreis ausgezeichneten Film Sein und Haben/Etre et avoir muss erst entdecken, dass hier Kinder von zum Teil beträchtlichem Altersunterschied in einer einzigen Klasse unterrichtet werden. Auch über das Wo und Warum herrscht zunächst Unklarheit. Trotz dieses Verzichts auf einen narrativen Rahmen wird hier viel erzählt werden, einprägsam und bestimmt - über den Konflikt zwischen Lernen und Leben.Wir beobachten mit einem Kamera-Auge, das für Kinder und Lehrer sehr erfolgreich vorgibt, nicht da zu sein, wie schwer dieser Kampf für alle Beteiligten ist. Der die Kinder einweiht in des Lebens Zwänge, Georges Lopez, hat auf der einen Seite mit einem Vorschüler zu ringen, der seine Zeichnung einfach nicht fertig ausmalen möchte, auf der anderen mit den zwei Ältesten, die wieder einmal prügelnd aneinander geraten sind. Dem sonst wenig vom Kinohocker reißenden Prädikat "pädagogisch wertvoll" völlig angemessen wirken seine stetigen Erklärungen, warum er strafen muss ("du hattest es mir doch versprochen") oder etwas nicht in Ordnung sein kann ("was würdest du sagen, wenn dich jemand mit Worten angreift"). Interessanter noch stellt sich eine Qualität des Landlehrers dar, die mit dem Filmtitel Sein und Haben zusammen hängt: seine stützende, tragende Funktion, die auch den beiden Hilfs-Verben in der Satzbildung zukommt. Da wäre das haptische Element, das viele von uns in der Schulzeit so nicht erleben durften. Der Lehrer zeigt dir nicht nur, wie du den Zirkel richtig hältst, sondern auch, wie man ein Ei aufschlägt und ein Omelette mit der Pfanne zum Wenden in die Luft wirft. Hinzu kommt eine Art permanenter Befragung, mit der Lopez jeden seiner Schüler verfolgt und die spürbar das Denken anregt. Nie sollen die Kleinen das Gefühl haben, irgend etwas ohne Grund zu tun - und sei es, dass sie als solchen die Brutalität des Zwangs ausmachen. "Warum bist du hier?" fragt der Lehrer. "Was lernst du hier? Ist das wichtig? Ja? Warum ist das wichtig?" Besonders deutlich wird diese beeindruckende Qualität Lopez´ im Gespräch mit einem älteren Jungen, dessen Vater an Krebs leidet. Mit einem einfachen "ja" auf die Frage, ob es diesem gut gehe, gibt sich der Lehrer nicht zufrieden. Und als der Junge dann in Tränen ausbricht und zugibt, dass der Vater bald wieder für eine neue Operation ins Krankenhaus muss, steckt der schulische Ersatz-Vater sofort zurück, tröstet und sagt: "Komm schon, du weißt doch, dass er bald wieder gesund ist". Die Miene des Jungen klart auf, und der Lehrer schiebt nun seine Formel nach: "Krankheit ist ein Teil des Lebens. Wir müssen das akzeptieren und lernen, mit ihr zu leben."Leider werden solche starken Szenen in Etre et avoir von einem Schatten getrübt, der in seinen früheren Filmen weniger Kontur annehmen konnte - demjenigen des Kitsches. So wirkt das Einbetten des Lehrer-Schüler-Verhältnisses in den Zyklus der vier Jahreszeiten im Zentralmassiv streckenweise verklärend, ganz so, als ob die fröhlich vor sich hin gedeihende Natur den Lehrer in seiner Aufgabe stützen sollte und könnte, Trost und Lehre zu spenden.In zwei früheren Filmen, die das Berliner Kino Arsenal in seiner Philibert-Reihe zeigt, finden ebenfalls Interviews inmitten idyllischer Natur statt. Doch haben diese beiden beeindruckenden Arbeiten, die sich gehörloser und psychisch kranker Menschen annehmen, niemals in diesem Maße mit der Gefahr des Umkippens in Verklärung zu kämpfen. Vielleicht liegt es daran, dass die tauben Gesprächspartner durch ihren Rebellionsgeist sowie die Energie ihrer Gebärdensprache und die Anstaltspatienten durch ihre unkonventionellen, anrührenden Aussagen das Hübsche ihrer Umgebung auf seinen Platz verweisen, wenig wichtiges Beiwerk zu sein. Philibert gelangen gerade in diesen beiden Filmen vielleicht seine besten, nüchternsten, überraschendsten Bilder. Kaum zu vergessen ist etwa der Anfang von Le pays des sourds, in dem ein Gehörlosen-Chor vor Notenständern inbrünstig ein Lied singt - in minutenlanger, vollkommener Stille. Oder jener Patient aus La moindre des choses, der in der Telefonzentrale der Anstalt arbeitet und den Anrufenden in langsamen Worten ganz bestimmt sein Tempo aufzwingt: "Rufen Sie in einer halben Stunde wieder an. Ich muss sie erst suchen gehen. Ich sage, Sie rufen in einer halben Stunde wieder an."Beinahe ganz dem Innen verhaftet bleiben die zwei Filme La ville Louvre und Un animal, des animaux. Um diese zu genießen, muss man sich von ihrem Regisseur in eine meditative Stimmung versetzen lassen. Vergleichsweise investigativ gibt sich noch der erste, der sozusagen die Rückseite der Louvre-Medaille vorstellt und Hunderte von Arbeitern "hinter den Kulissen" verfolgt. Kuriere flitzen auf Rollschuhen durch die kilometerlangen unterirdischen Gänge, Putzmannschaften schrubben die gläserne Pyramide, Gerüste werden ab- und aufgebaut, Gemälde von einem Raum zum nächsten geschleppt. Der andere, im Pariser Naturkundemuseum verortete, gibt sich hingegen fast ausschließlich dem Einfangen von Stills ausgestopfter Tiere hin, die fauchend und doch erstarrt aus dem Dunkel ihrer Magazine leuchten.Philiberts vorletzter Film Qui sait? geht diesen interessanten Weg in die eingeschlossene Nacht noch weiter. Schauspielschüler des Straßburger Nationaltheaters kommen an einem Abend zusammen, um Ideen zu einer eigenartigen Aufgabe auszuarbeiten: die Stadt selber auf die Bühne zu bringen. Die Übung zieht sich die ganze Nacht hin. Durch das beinahe ständige Dunkel verstärkt, wenn nicht gar ermöglicht, entwickelt sich in der Gruppe ein psychologisch interessantes Heraustreten aus der Zeit, in dem Überlegungen, Ideen und deren Ausprobieren mit Aufeinandereingehen, geständnishaftem Preisgeben und sinnlichem Spüren zusammenfließen.In seinem jüngsten Film Etre et avoir will Philibert entschieden in die entgegengesetzte Richtung steuern, verabschiedet sich vom Dunkel der metallischen Kaserne, in dem die Straßburger Truppe arbeitet, und hält auf Licht und Land zu. Teilweise übertreibt er es dabei. Auf den Vorwurf, sein Thema an mancher Stelle zu einseitig präsentiert zu haben, reagiert der Dokumentarist ausweichend: "Idyllisch? Für mich ist es ein sehr offener Film, der Raum für Interpretationen lässt."Die Reihe "Nicolas Philibert, Dokumentarist" läuft vom 16. bis 31. Januar im Kino Arsenal im Filmhaus am Potsdamer Platz in Berlin. Gezeigt werden neben Etre et avoir auch Qui sait? (1998), La moindre des choses (1996), Un animal, des animaux (1994), Le pays des sourds (1992) und La ville Louvre (1990). Weitere Informationen unter: www.fdk-berlin.de
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