... im Keller öffnet man die Gashähne

Böses Frühlingserwachen Österreich in den sechziger Jahren - Ein Filmabend auf 3Sat zeigt Avantgarde-Filme, die im Land des Heimatromans gegen die Verpflichtung zur Ruhe aufbegehren

Beginnender Frühling in Österreich: Parteichefin Susanne Riess-Passer reist in die USA, um bei der Bush-Regierung für das Demokratiebewusstsein ihrer FPÖ zu werben. Während dessen schüttelt Jörg Haider Iraks Diktator Saddam Hussein die Hand. Auf innerparteiliche Kritik an diesem Besuch reagiert der Kärntner Landeshauptmann wie schon so oft: Er erklärt seinen Rückzug aus der Bundespolitik. Doch schon einen Tag später ist er zu einer Rückkehr unter gewissen Bedingungen bereit. Die wichtigste Forderung lautet, es müsse "Schluss sein mit dem Kasperltheater" in der FPÖ.
Haiders Vergleich der österreichischen Politik mit einer Bühne, die zum Lachen reizt, war nicht neu. "Die Österreicher glauben", sagte Thomas Bernhard 1986 in einem seiner Dramolette, "ihr Vaterland ist eine Tragödie, während es doch eine Komödie ist".
Zu Beginn der sechziger Jahre ging Bernhard diese Nonchalance noch völlig ab. Mit den wütenden Worten "Vaterland, Unsinn" beginnt sein Text In der Höhe von 1959. Die wie eine bloße Aneinanderreihung von verzweifelten Gedankenfetzen wirkende Prosa-Collage stößt sich an allem, das mit dem österreichischen Volk zusammenhängt: dem "Volksstaat", der "Volksgrammatik" und der "Volkshymne". "Mit der Masse gehorchen, mit der Masse untergehen" ist die Angst, die aus jeder Zeile dieser handlungslosen Prosa spricht.
Im selben Jahr beginnt Ferry Radax, seinen Film Sonne halt! zu drehen, der 1962 fertig wird. Ein Mitglied der wenige Jahre zuvor gegründeten Wiener Gruppe, Konrad Bayer, liefert dazu Texte und tritt selber als erregter Dandy vor die Kamera. Hektisch erzählt er von jemand, der "anstelle gewöhnlicher Eigenschaften starke patriotische Neigungen" hatte. Und während einer auf die Sonne schießt, ruft er aus dem Off: "Die Masse is a Bleedsinn!" Radikal verweigert sich auch dieser Film jedem Handlungsfluss. Er will vieles, sehr vieles sagen, aber nicht in Form einer Geschichte, die den "Philistern" gefällt. Er will schreien und provozieren. "Dadurch, dass die Kunst entsteht, entsteht der Mensch!" ruft Bayer, und fügt beinahe im selben Atemzug an: "Als ich merkte, dass ich meinen Regenmantel anhatte, erschienen die Ereignisse in einem neuen Licht."
Nach 1945 herrschte in dem kleinen Land Österreich, das während des Zweiten Weltkriegs zu existieren aufgehört hatte, ein absoluter "Wunsch nach Ruhe". Diesem hatte sich nicht nur die Bestrafung von Nazis weitgehend unterzuordnen. Auch die Zugänge zur Moderne der Jahrhundertwende in Wien blieben die fünfziger Jahre über verschüttet - als Tribut an die Suche nach der klein-österreichischen Identität. Diese fand das im Laufe der Jahre immer größere wirtschaftliche Sprünge machende Fremdenverkehrsland durch sein "Zusammenhalten im Katholischen, Eskapistischen und Antipolitischen". Wiederaufbau-Österreich suchte sein hübsches Spiegelbild "in einer Verherrlichung seiner Barockzeit und seines 19. Jahrhunderts".
Drei Gruppierungen von Künstlern begannen Ende der fünfziger Jahre aus diesem mit der Realität der jüngsten Vergangenheit vertauschten Heimatroman zu erwachen und traten in den sechziger Jahren verstärkt an die Öffentlichkeit. Da war zum einen eine neue Generation von Schriftstellern, vor allem die Wiener Gruppe, die durch den Happening-Charakter ihrer "literarischen cabarets" Salz in die Wunden der selbstzufriedenen Österreicher rieb. Sie wollte das Publikum dazu erziehen, "seinen wahrnehmungskreis zu erweitern". Dabei wollten die Bürger doch nur eines sein: gute, brave Patrioten.
Auf eine Sprengung des allzu engen ästhetischen Horizonts setzten auch die Maler und bildenden Künstler des Wiener Aktionismus. Ab Anfang der sechziger Jahre schockierten heute so etablierte Künstler wie Otto Mühl, Günter Brus und Hermann Nitsch durch provokative, oft orgiastische Veranstaltungen, bei denen das Blut soeben geschlachteter Tiere eimerweise über nackte Menschenkörper floss. Häufig wurden solche "Aktionen" von der Polizei beendet.
Eine dritte Gruppe, die mit den anderen beiden jedoch guten Kontakt pflegte, waren die Avantgardefilmer. Anders als in einer Verstörung des Zuschauers konnten und wollten sie ihre künstlerische Aufgabe nicht sehen. "Österreich ist eine Gewöhnung, der sich Europa wird entwöhnen müssen, wenn es sich nicht infizieren will", proklamierte Peter Weibel 1969. Um die "Paralyse" aufzuhalten, müsse jeder Mitläufer-Mensch einem Lernprozess ausgesetzt werden - einem schrittweisen sich Öffnen durch individuelle, sinnliche Erfahrung. Daher habe auch der Film mit der "Wiederspiegelungstheorie" der Realität in der Kunst Schluss zu machen. Geschichten erzählen bedeutet in Märchen einlullen, was aus dem lähmenden Schlaf wecken kann, ist einzig der stechende, aufwühlende Moment, den jeder in sich selber spürt.
Beim Ansehen von Am Rand, einer weiteren Zusammenarbeit von Radax und Bayer aus den frühen sechziger Jahren, versteht man schnell, was gemeint ist. Der Film besteht aus einem Gefüge von unterschiedlichsten Szenen, die scheinbar nicht zusammenhängen. Doch wenn direkt hinter die Bildersequenz aus einem Schlachthof ein Ausschnitt aus einer Messe im Stephansdom geschnitten wird, entsteht ein Sinnzusammenhang jenseits der Kausalität einer Erzählung. Denn das Assoziationsvermögen des Betrachters beginnt sich energisch zu regen, wenn sich zunächst ein beschürzter, blutbefleckter Mann mit einem Betäubungsapparat seinen Weg durch eine Horde ahnungsloser Schweine bahnt, der dann von einer von Ministranten umgebenen Exzellenz abgelöst wird, die der versammelten Menge in der Kirche den Segen spendet.
Hinter dem unscheinbaren Titel 20. September verbirgt sich eine noch radikalere Verknüpfung von unabhängigen Szenen ohne Geschichte. 1967 nahm der Filmemacher Kurt Kren den Aktionisten Günter Brus auf. Eine Szene zeigt sein Gesicht, während es langsam ein Glas leert, eine weitere, wie er sich mit einer Gabel Essen in den Mund schiebt und genüsslich kaut. Eine andere Szene zeigt Brus´ Glied beim Urinieren und eine vierte seinen Anus beim Hervorpressen von Kot. Ohne Ton zu unterlegen, schneidet Kren diese Aufnahmen in einer stummen Wiederholungsschleife hintereinander. Im Zuschauer entsteht so ein schales, beklemmendes Gefühl der Unentrinnbarkeit aus dem primitiven Kreislauf des Lebens.
Die österreichische Öffentlichkeit verbat sich allerdings diese Form der künstlerischen Provokation. Es gelang ihr, viele Nestbeschmutzer - zumindest vorübergehend - ins Ausland zu vertreiben, um weiterhin in Ruhe in beschaulichen Heimatromanen zu schwelgen. Dessen wichtigster Vertreter Karl Heinrich Waggerl dichtete 1950: "Die Wiese nimmt mich immer auf, die Erde zieht mich an sich, die gute, braune Erde."
Gegen diese Freude am Guten, Braunen zogen auch die Texte Thomas Bernhards in den sechziger Jahren zu Felde. Aus ihnen spricht eine maßlose Enttäuschung über den Verlust der heilen Heimat. Doch ein Jahrzehnt zuvor schlief auch seine aggressive Sprache noch wie vom Lodenmantel umhüllt vor sich hin. Damals schrieb er für das Salzburger Demokratische Volksblatt in Phrasen, die von Waggerl hätten stammen können: "Alle tun etwas, alle arbeiten, regen sich in der Stille, machen das Dorf zu einem Platz des Friedens." 1963 benötigt der Erzähler von Der Italiener noch mehrere qualvolle Anläufe, bis er sich dazu durchringen kann, seinem Besucher aus dem Ausland von einem Massengrab zu erzählen. Nazis haben "zwei Dutzend Polen" in dem Lusthaus seines Anwesens erschossen, wo sie Zuflucht gesucht hatten. 1985, wenige Jahre vor seinem Tod, hat Bernhard schließlich zu seiner offenen, lapidaren Sprache über das tragikomische Lusthaus Österreich gefunden: "Im ersten Stock spielt man Geige. Im Keller öffnet man die Gashähne. Eine typisch österreichische Mischung aus Musik und Nazismus."

Montag, 1.7. auf 3sat: European 60s. Kultfilme der Sechziger - Anders erzählen. Österreichische Experimentalfilme.


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