Ureigenes Terrain

Im Kino Phillip Noyces "Long Walk Home" erzählt von der lange verdrängten Geschichte der "gestohlenen Generation" der Aborigines

Misstrauen erweckt das Kino, wenn es einfach vorgibt, "wahre Geschichten" zu erzählen. Schon bei Dokumentarfilmen windet man sich auf der Fernsehcouch, wenn manchmal ein Regisseur unreflektiert so tut, als würden seine letztlich immer doch inszenierten und planvoll hintereinander geschnittenen Bilder reine, glasklare Wirklichkeit abbilden. Umso ablehnender fällt die erste Reaktion aus, wenn es sich um einen Spielfilm handelt, bei dem versierte Schauspieler die "echten" Menschen ersetzen.

Der nächste Stein des Anstoßes: Long Walk Home erzählt vor allem auch eine rührselige Geschichte, die ins Kitschige weisende Bezüge zu den Brüdern Grimm, Heidi und Pinocchio enthält. Drei Kinder werden ihren lieben Müttern von bösen Männern weggenommen und in ein weit, weit entferntes Lager zu bösen Menschen gebracht, wo sie ausbrechen. Im tapferen, immer währenden Denken an ihre gute Mama schütteln sie listig alle bösen Verfolger ab und finden über viele, viele Meilen zu Fuß die ersehnte Heimat schließlich wieder.

Trotz dieses klischeehaft-rührseligen Plots hat der aus Australien stammende Phillip Noyce einen beeindruckenden, bewegenden Film gemacht. Zum einen liegt das daran, dass sein Thema an die Nieren geht. Erst seit etwa fünf Jahren beschäftigt sich die ehemalige britische Kolonie mit ihren inzwischen unter dem Schlagwort stolen generations bekannt gewordenen Deportations-Verbrechen. Denn nicht nur die australischen Ureinwohner wurden lange grausam diskriminiert. Bis in die siebziger Jahre hinein erlaubte ein "Kinderfürsorgegesetz" auch, Mischlingskinder von Aborigines und weißen Einwanderern gewaltsam aus ihren Familien zu entfernen und in staatlich oder kirchlich geführten Internaten großzuziehen. Hier lernten sie "richtig sprechen", sollten alles Aborigine-hafte ablegen und schließlich als Putzfrauen oder Landarbeiter bei Weißen unterkommen. Würden sie selbst einmal Kinder bekommen, sei so gesichert, dass diese nur hellhäutige Väter oder Mütter bekommen würden - und zwei weitere Generationen später wäre das Aborigine-Blut vollkommen verschwunden, da es von dem weißen dann vollständig "absorbiert" worden wäre.

So erklärt es der von Kenneth Branagh gespielte Chief Protector of Aborigines 1931 in Perth einer Runde wohlhabender weißer Frauen, auf deren Spenden er für seine Arbeit hofft. Das Verschlepptwerden in Erziehungsheime bedeutet für die betroffenen Kinder auf perverse Weise nämlich eine Auszeichnung, da ihnen nach den langen Jahren der Umerziehung eine Eingliederung in die herrschende Kaste winkt - wenn auch auf unterster Ebene. Und sogleich führt Phillip Noyce dem Zuschauer vor, wie ein solches Glück aussieht. In einem Ureinwohnerreservat im Westen des Landes ist einem Wächter aufgefallen, dass drei Kinder eine ungewöhnlich helle Haut aufweisen. Tatsächlich haben einige der weißen Arbeiter am kaninchensicheren Zaun, der die ganze Region über Hunderte von Kilometern in mehreren Richtungen durchzieht, Kinder mit Aborigine-Frauen gezeugt. So kommt ein Polizeiauto im richtigen Moment vorgefahren, und man reißt die zwei Schwestern und ihre Cousine aus den Armen ihrer Mütter.

Ab dieser Szene macht sich eine andere Qualität des Films bemerkbar. Das Leid der stolen generations gewinnt an Unmittelbarkeit und Plastizität, weil es von nun an nahezu ausschließlich aus Kinderaugen vorgeführt wird. Wie die drei Mädchen zunächst einfach nicht begreifen können, warum sie plötzlich nur noch Englisch und kein "Gebrabbel" mehr sprechen dürfen oder ihnen wieder und wieder gesagt wird, dass sie keine Mama haben, erscheint es auch dem Zuschauer unfassbar, dass sich in einer Nation westlicher Prägung von 1910 bis 1976 schätzungsweise 100.000 Mal dasselbe ereignet haben soll. Wer hier aus der Reihe tanzt, wird grausam bestraft. Mittelalterlich anmutende Sühnen wie Schläge, das Kahlrasieren und Eingesperrtwerden führen die unnachgiebige Härte der Umerziehungsanstalt vor. Am heftigsten ahnden die Nonnen jedoch das Ausreißen. Ein erfahrener Spurensucher hat im Film bislang noch jedes davongelaufene Kind zurückgeholt, und trotzdem wagen die drei Neuankömmlinge schon bald den Ausbruch.

Man weiß, dass an den nun folgenden Sequenzen immerhin so viel wahr sein muss, dass zwei der drei Kinder, alle Verfolger hinter sich lassend, über 1.500 Meilen durch die australische Wildnis liefen, um schließlich zu ihrer Familie zurückzufinden. Hierbei war neben einigen ihnen wohl gesonnenen Menschen ihre einzige Hilfe der Orientierung bietende Kaninchenschutzzaun. Noyce kann und will es bei diesen beeindruckenden Tatsachen jedoch nicht belassen. Die Kinder entwickeln sich vor seiner Kamera zusehends zu den guten Wilden, die von den leicht bis schwer degenerierten, in der Wüstensonne stets übermäßig schwitzenden Weißen auf ihrem ureigenen Terrain vergeblich gejagt werden. Biblische Motive wie dasjenige vom Auszug des auserwählten Volkes aus Ägypten klingen manchmal etwas beklemmend an. Dem hartnäckigen Spurensucher - selbst ein Aborigine - kommt dabei die Rolle des Judas zu, während am Himmel ein wilder, schöner, freier Vogel den Schwestern Mut einflößt.

Long Walk Home hinterlässt eine Mischung aus einigen abgeschmackten und einer Vielzahl anrührender Eindrücke. Peter Gabriels gelungener Soundtrack hat an letzteren keinen geringen Anteil, wie auch Kenneth Branaghs brillantes Spiel des Gutvater-Ariers, der im Mischlingslager lächelnd nach besonders hellhäutigen Kindern fahndet, die er vielleicht in eine richtige Schule schicken wird. Und dann wären da noch ein paar amazing pictures von Wüsten, Flüssen, Wäldern und - Tränen.

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