Diese Ausstellung will viel zu viel auf einmal", sagt der Dozent, "da geht alles kreuz und quer." Er macht eine kurze Pause, blinzelt in die Sonne und lächelt. "Für unsere Zwecke ist sie also ideal." Dann ruft er seine Klasse zusammen und führt sie ins Museum hinein. Die Malerei-Studenten der Kunstakademie lösen sich langsam aus ihrer Klassenausflugs-Stimmung und scharen sich um Dozent und jeweiliges Bild, das er ausgewählt hat, um nun Bedeutungen zu analysieren und zu überlegen, wie diese vom Künstler hervorgerufen werden konnten.
Nicht nur für ihre speziellen Zwecke ist die Schau Lieber Maler male mir - Radikaler Realismus nach Picabia interessant. Weil sie ganze siebzehn Künstler versammelt, von denen die meisten zu den aktuellen Stars des Kun
len Stars des Kunstmarkts zählen, hat sie den prickelnden Schmiss einer Hitparade, deren Faust sich um den Puls der Zeit geballt hat.Und dann wäre da noch das Konzept. Es reicht der Wiener Kunsthalle leider nicht, sich auf den gelungenen Bezug der zeitgenössischen Malerei zu apparativen Bildmedien wie Foto, Plakat und Film zu beschränken. Nein, eine richtige historische These muss zusammengezimmert werden. Alles aktuelle Malen, das nicht vollkommen abstrakt ist, presst sie in eine Genealogie hinein, die drei Väter haben soll: Der erste, der in der Pariser Kunstszene verwurzelte Francis Picabia, war zunächst Impressionist und dann Dadaist. In den vierziger Jahren malte er für die deutschen Besatzer eine Reihe von Kitschbildern, die leicht oder nicht bekleidete Frauen in lasziven Posen zeigen. Diese wurden lange als die Produkte einer reaktionären Phase abgetan, bis die Postmoderne begeistert entdeckte, dass Picabia keine Modelle gehabt sondern direkt aus Softpornozeitschriften abgemalt hatte - und zwar bewusst nachlässig. Man fand nun, dass der Dandy seinem Zynismus in diesen Werken auf bewundernswert verklausulierte Weise Ausdruck verschafft habe, als Abmaler des herrschenden schlechten Geschmacks, der für die Unkundigen nicht sichtbar Plakate statt Porträts herstellt. Zweierlei lässt ihn für Wien zum Über-Vater der Ausstellung erscheinen: Die quasi frühmedial bestimmte Mittelbarkeit seiner Bilder (wegen der Zeitschriftenvorlagen) und die grobe Technik, welche an die Bühnenmalerei erinnert. Ein anderer Ursprung, auf den man sich beruft, sind die Bilder aus einer bestimmten Phase von Bernard Buffet. Auch hier hat die Theorie, die gerade im Schwachen das Interessante ausfindig machen zu können glaubt, ein Exempel statuiert. Einer der erfolgreichsten Maler der Nachkriegszeit, der wie kein anderer die Not und Entbehrung in ausdrucksstark karge Interieurs mit abgemagerten Menschen transportieren konnte, verlor seinen guten Ruf in den sechziger und siebziger Jahren. Die Zeiten hatten sich gewandelt und der Überfluss regierte, worauf Buffet mit Porträts von Mannequins reagierte, die man als Kitschbilder abtat - bis die Moderne sich ihr Post-Präfix gab und diese glatten, eigentümlich wenig sagenden Arbeiten als verkannte Produkte des Pop entlarvte. Der dritte angebliche Angelpunkt der Wiener Ausstellung fällt schon in Derridas Hoch-Zeit. Der Berliner Martin Kippenberger war jemand, der die Authentizität - die Autorenschaft - von Bildern radikal in Frage stellte. Das Motto der Wiener Ausstellung Lieber Maler male mir ... entstammt einer Serie von Gemälden, die er in den achtziger Jahren bei Plakatmalern in Auftrag gab. Diesen überließ er einfache, schnappschussartige Farbfotos mit der Aufforderung, sie wie Filmwerbeplakate grob und glänzend zu vergrößern.Betritt man die Kunsthalle, zeigt zunächst ein abgedunkelter Abschnitt die nachlässig ausgeführten erotischen Bilder Picabias. Aus der leicht bordellhaften Atmosphäre kommt der Besucher danach in einen großen, hellen, verwinkelten Raum, der alle anderen Bilder auf zwei Ebenen präsentiert. In einer Ecke hinter Buffet und Kippenberger trifft er auf aktuellere und auch ungleich interessantere Arbeiten - von John Currin. Der in den letzten fünf Jahren berühmt gewordene New Yorker schafft es, seine beklemmenden Porträts zeitlich in der Schwebe zu lassen. Vor Jaunty and Mame von 1997 spürt man etwa, dass dieses in zwanzig Jahren noch dasselbe unbestimmte, unbehagliche Gefühl vermitteln wird wie heute - ganz anders als Picabias oder Kippenbergers Produkte, die ganz klar in eine bestimmte Zeit gehören und heute wie Schnee aus der Résistance- oder Reagan-Zeit anmuten. Currins zwei Frauen haben Anteil an der Karikatur, dem Impressionismus und der altmeisterlichen Malerei. Dieser geschickten Stildurchmischung ist es zu verdanken, wenn im Betrachter das schwer auslotbare Gefühl einer nicht greifbaren Bedrohung entsteht. Die Frisuren sind akkurat und nichts sagend wie die fröhlich-freundlichen Kleider, Arme und Hände sind über-sauber ausgeführt. Doch die lächelnden Gesichter übersäen grobe Striche, die fallweise wie aufgespachtelt wirken. Im Zentrum des Bildes befindet sich ein Dollarschein, der von den ballonartigen Brüsten der einander gegenüber Stehenden eingerahmt wird. Hinter dem Akt, auf dem die eine Frau der anderen für einen (zu kleinen) BH einen Geldschein reichen möchte, (den diese dankend ablehnt), steht ein orangefarbener, leerer Hintergrund, der wie ein schwarzes Loch abstoßende Fassade wie mitleiderregende Verstümmelung aufzusaugen scheint.Einige Winkel weiter hängt eine Reihe von Bildern aus der Serie Der diagnostische Blick des Belgiers Luc Tuymans. In den neunziger Jahren malte der auf großen Ausstellungen wie der Documenta oder Biennale in Venedig gerne gesehene Gast Abbildungen aus einem Lehrbuch für Hautkrankheiten ab. Dabei verfährt er so geschickt, dass etwa der Schatten auf dem Gesicht eines porträtierten Mannes auch von einem diffusen Lichteinfall herrühren könnte. Auch diese Bilder sind der Zeit enthoben und vermitteln ein Gefühl des Grauens, das sich wie die Vorhölle zu einem Konzentrationslager anfühlt. Der eine Grund liegt in der medizinischen Realität an sich: Nur durch ihre Krankheit ausgezeichnete No-Name-Menschen tragen modelose Haarschnitte und Bademäntel. Sie posieren nicht, da mit der Kamera nur der aufzuzeichnende Grad ihrer Entstellung aufgezeichnet werden soll. Die Objekte haben also nicht einmal die Möglichkeit der Einflussnahme darauf, wie sie auf den Betrachter wirken können. Zum zweiten hat Tuymans das Automatenhafte der Lehrbuchabbildungen noch dadurch verstärkt, indem er lediglich verwaschen und vergilbt wirkende Farben verwendet. In die Ferne sehende Augen sind kaum noch zu erkennen, das Haar gleicht demjenigen auf einem Phantombild und das Weißgrau der Wände vermischt sich mit demjenigen der Liegen und Böden. Man starrt in ein ausgezehrtes Beinahe-Nichts der abgestorbenen Gefühle.Ganz gegenteilig geht es im ersten Stock der Winkelgänge zu, wenn die collageartigen, farbenmächtigen Arbeiten des Leipziger Stars Neo Rauch auftauchen. Die großformatige Sturmnacht und der von den Ausmaßen her bescheidenere Grat von 2000 lösen sofort zwei einander widersprechende Wahrnehmungen aus. Da ist der dominierende Anklang an die Propaganda des Sozialismus. Starke junge Männer mit ehrlichen Fünfziger-Jahre-Scheiteln und -trachten vollbringen einen Kraftakt nach dem anderen. Wie auf Plakaten üblich wirken sie eher angestrichen als gemalt. Und gleichzeitig fällt ins Auge: Dieses Element bildet lediglich Rauchs Oberfläche. Dass die mal riesigen, mal ganz kleinen Figuren sinnlose Tätigkeiten ausführen, mag zwar an die Hohlheit der DDR-Planwirtschaft erinnern. Entscheidend ist aber, wie sich ihr Gebaren gegenseitig durchdringt und was sie da tun. Rauch produziert keine Karikaturen von Plakaten und Collagen, sondern am Rande des Alps stehende Träume. Auf mehreren Ebenen geschieht alles gleichzeitig, da er das Raum-Zeit-Kontinuum aufhebt. Auf einer Registrierkasse steht "Hirte", aus einem in der Luft hängenden Kühlschrank entschwimmen grüne Spermien, ein ausgewachsener Mann liegt auf einem Krankenbett, das für ihn die Größe eines Flugzeugs hat, während sich in seinem Blickfeld hinter zwei grimmigen Jägerriesen ein die Bäume zerknickender Sturm ausbreitet.Die Bilder Neo Rauchs gehören vielleicht zu den verstörendsten, die unsere Zeit zu bieten hat, wenn für Wien auch nicht die besten ausgewählt wurden. Auch wegen Tuymans und Currin lohnt sich der Gang in die Kunsthalle. Dazwischen mischt sich fallweise durchaus Beeindruckendes von Glenn Brown, Kurt Kauper und anderen. Doch das Konzept, ausgerechnet Kippenberger und Picabia sowie Buffet als die Altväter all dieser Maler auszurufen, überzeugt keinen Museumsschritt weit. Rauch steht Picabia wohl kaum näher als Piet Mondrian. Auch die Auswahl der Künstler bleibt fragwürdig. Wer in der groß angelegten Schau fehlt, ist genauso unklar, wie wer in ihr zu viel ist. Das theoretische Band der Nicht-Unmittelbarkeit und der Medien-Bezüge wirkt ebenfalls nicht straff, denn welcher Künstler nimmt auf diese Phänomene heutzutage nicht Bezug?Trotzdem stellt die Ausstellung alle zufrieden. Der Dozent kann die verschiedensten Techniken erklären. Die Kunstakademie-Studenten können sich ein Bild davon machen, was gerade en vogue ist. Und Otto Normalbesucher, der sich kein Theoriekorsett überstülpen lässt, kann einige verstörende Glanzpunkte aktueller Malerei kennen lernen. Diese ist vielleicht radikal, vielleicht auch realistisch. Und vielleicht auch nicht.Noch bis 1. Januar 2003 in der Kunsthalle Wien, Museumsplatz 1, Katalog 25 EUR. Ab 14. Januar bis 6. April 2003 in der Kunsthalle Schirn, Frankfurt am Main
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