Bereits zum vierten Mal fand Ende November, diesmal in Stuttgart, das Festival "Politik im freien Theater" statt. Hinter dem etwas unglücklichen Titel verbirgt sich das umfangreichste, alle drei Jahre veranstaltete, deutsche Festival der freien Theaterszene, ins Leben gerufen, kuratiert und durchgeführt von der Bundeszentrale für politische Bildung. Die Allianz von Staat und Theater ist ja hierzulande nichts ungewöhnliches. Dass sich eine Bundesinstitution um die Förderung der freien Szene verdient macht, spricht aber für die Aufgewecktheit der demokratischen Erziehungsorgane. Dass man sich mithilfe des Theaters verspricht, Auseinandersetzungen über gesellschaftliche Probleme zu führen oder gar zu forcieren, zeugt immerhin von einem rührend unge
ngebrochenen Verständnis von Theater als einem Ort der demokratischen Verständigung und Kritik. Dass aber ausgerechnet das Theater geeignet sein soll, sich der popmodernen Bilderflut aufklärerisch entgegenzustellen, wo man mit Schriftenreihen und Seminarveranstaltungen nicht mehr wirkungsvoll agieren kann, mag man kaum glauben. Macht sich da jemand ernsthaft Illusionen über die gesellschaftliche Wirkungskraft von Theater?Fest steht, dass das Festival in Stuttgart auf gewisse Weise gut aufgehoben war. Die Stuttgarter sind einerseits stolz auf ihre Autos und gehen andererseits viel ins Theater. Die "Kulturgemeinschaft Stuttgart" ist Deutschlands größte Abonnentenvereinigung. Wohlstand, demokratisches Selbstverständnis und kulturelles Interesse bilden hier einen stimmigen Dreiklang. So waren auch fast alle der rund 70 Einzelveranstaltungen sehr gut besucht.Die freie Szene sah sich traditionellerweise eher als Störenfried in dieser harmonischen Konstellation. Sie spielte im symbiotischen Verhältnis von Demokratie und Theater lange das trotzige Kind, welches sowohl das staatstragende Theater als auch die unmündige Gesellschaft kritisiert, möglichst ästhetisch experimentell und politisch radikal. Dieses in den 70er Jahren geborene Kind ist mittlerweile erwachsen geworden. Es lebt längst in seinem eigenen, löchrigen Subventionsnetz, zwar nicht wie im Paradies, aber auch nicht auf der Straße. Die meisten der in Stuttgart vertretenen Gruppen bespielen eigene kleine Häuser oder sind in festen Produktionsverbünden zuhause. Das politische Selbstverständnis der freien Theatermacher könnte unterschiedlicher kaum sein. Für die einen ist die weitgehend kollektive Praxis (immer noch) ein Politikum, für andere sind es ästhetische Verfahren oder inhaltliche Interessen. Was das Politische im Theater sein könnte, diese nervige Frage, vermochte niemand erschöpfend zu beantworten und so musste man die Arbeiten selbst zum Ausgangspunkte für eine solche Erörterung nehmen. Darin erwies sich die unbestreitbare Qualität der Veranstaltung. Die gezeigten Ansätze waren in jeder Hinsicht von so unterschiedlicher Qualität, dass man trotz 22 Aufführungen an 11 Tagen vor Überraschungen aller Art niemals sicher war.Theater als Medium von Aufklärung über gesellschaftliche Missstände scheint angesichts einer offenen Informationsgesellschaft, die von Nachrichtenkanälen, Internethighways und Dokudramen durchzogen ist, kaum noch eine Berechtigung zu haben. Und trotzdem gibt es Erfahrungsbereiche, die einem gemeinhin verschlossen bleiben. Eine besonders radikale Form, einer Kunstinstallation ähnlicher als gewohntem Theater, hat das Braunschweiger LOT-Theater gefunden, um einen solchen Bereich zugänglich zu machen. Das Publikum wird für 75 quälende Minuten mit der ereignislosen implodierenden Hölle eines Arbeitslosen konfrontiert. Die Zuschauer sitzen um einen Glaskäfig, in dem sich drei Männer aufhalten. Diese Männer dämmern vor sich hin, kleiden sich an und aus, waschen sich, machen sich für etwas bereit, das nie geschieht. Über Lautsprecher hört man verzerrt einen taumelnden inneren Monolog, der die Frage nach der eigenen Würde nicht beantworten kann. Sind die draussen, die noch Arbeit haben, die Zombies und man selbst ist noch Mensch oder ist es andersherum? Im Kopf dieses Arbeitslosen ist der Krieg schon ausgebrochen, aber er findet außerhalb seiner Phantasien kein erlösendes Ventil. Als Zuschauer wird man in diesen selbstzerstörerischen Kampf bis zur Unerträglichkeit mit rein gezogen und ist froh, als das "Stück" vorbei ist. Der Inszenierung gelingt es, ohne jeden Dialog, einen psychischen Zustand sichtbar zu machen, der rein äußerlich kaum noch registriert wird. Das besonders Erschreckende daran ist, dass man die tickende Bombe Mensch unmittelbar zu spüren bekommt. Heute ist ein schöner Tag blieb die einzige Aufführung, bei der nicht gelacht wurde.Ansonsten war das Lachen, das im Hals stecken bleibt, der wichtigste Begleiter des Festivals. Immer wieder wiesen auch die Künstler in den Publikumsgesprächen darauf hin, dass es ihnen auf das bittere Lachen ankommt. Die überzeugendste Haltung zum Thema Lachen präsentierte das Theater des Lachens, sowohl auf der Bühne, als auch in der Theorie. Die Regisseurin Astrid Griesbach arbeitet seit Jahren an einem Art Narrentheater. Der Narr, der sich in seinen wahren Absichten unerkannt durch die Zeit schmuggelt und in der Lage ist, jede Rolle einzunehmen, führt uns die Grundtatsachen des Lebens als Humoreske vor. Das Lachen ermöglicht Erkenntnis, weil es befreit. Nur, wer sich zuvor frei macht, ist auch in der Lage, Neues aufzunehmen. Die Inszenierung von Dantons Tod fragt nach den Resten der (ostdeutschen) Revolution. Die drei Narren auf der Bühne springen scheinbar wahllos zwischen den Szenen und stellen dabei komische und ernsthafte Situationen in teilweise rasantem Wechsel her. So unterhaltsam und voller Andeutungen dieses Spiel ist, so schnell verpufft es aber auch. Zurück bleibt der Eindruck von drei glänzenden Schauspielern, die mit Vehemenz ein Anliegen vorspielen, das geheimnisvoll bleibt. Zurück bliebt aber auch der Hinweis auf Büchners Text. Griesbach versteht ihre Arbeit nicht nur als Befreiung durch das Lachen, sondern auch als Auseinandersetzung mit historischem Text: "Wer sich seiner Wurzeln gewiss ist, kann sich vor dem Ausverkauf schützen."Das Lachen im Hals blieb manchem auch bei Sebastian Hartmanns Gemüsemassaker tränenspotten stecken. Vor allem dem Regisseur selbst wurde bange, als er mitansehen musste, wie eine Berufsschulklasse von Polizistenanwärtern seine Schauspieler, zwar wie aufgefordert, aber ungewohnt heftig, mit rohen Kartoffeln beschoss. Da hatte er es auf einmal hautnah mit der "grauen Masse" zu tun, die er mit seinem Theater herausfordern will. Das collagenartige Spiel über jugendliche Träume und Hoffnungslosigkeit ist ein vitaler Rundumschlag, der vor allem viel Energie freisetzt. Es ist das Theater-Pendant zu der Kunstinstallation vom LOT-Theater. Hier sind die Arbeitslosen aus ihrem Käfig ausgebrochen und spitzen ihre Phantasien auch auf der Bühne zu. Zum Schluss des Stückes gehen die Schauspieler durch die Pub likumsreihen und streicheln die verstörten Zuschauer, die der liebevollen Geste nicht richtig trauen wollen. Der 1968 geborene Sebastian Hartmann verwirrte und faszinierte auch mit seiner anderen Arbeit, der Toller-Bearbeitung Hinkemann. Mehr noch als ein unsentimental sezierender Blick auf den Stoff, ist es eine egozentrisch gemittelte Kraft, die beim Publikum ankommt. Die zynische Abrechnung mit Geschichte und Gegenwart ist auch eine Abrechnung mit der großen Politik. Hinter der Brachialität, die hier wirkt, steckt unverkennbar ein leidenschaftlicher Anspruch auf das private Glück. Das Politische daran, ist, wenn man so will, die Energie, die sich vermittelt, eine Wirkform des Politischen, die man auch von der Berliner Volksbühne gut kennt, an der Hartmann fast zeitgleich zum Festival seine erste Premiere auf einer Staatsbühne feierte.Anfangs viel gelacht wurde auch bei dem inoffziellen Festival-Sieger, der Soloperformance Zwei Stimmen der niederländischen Theatergroup Hollandia. Der Schauspieler Jeroen Willems schlüpft in bewundernswerter, detailreicher und komischer Vollendung nahtlos in verschiedene Figuren der Macht. Basierend auf Texten von Pasolini erscheinen so ein Intellektueller, ein Politiker und ein Kirchenmann mit ihren Obsessionen und Selbstdarstellungen, die kunstvoll um das Gute und das Böse kreisen. Schließlich erweisen sich die Gegensätze als unaufhebbar, im Bild eines Steines auch ungreifbar verschlossen, der ins schwarze Nichts strudelt. Den mikroskopisch gewundenen Texten begegnet Jeroen Willems mit einer entlarvenden Körpersprache, die das Antlitz hinter den Worten kenntlich macht. Dieser erste Teil funktioniert gleichermaßen als Studie der Macht, wie als monologische Selbstzerfleischung des Intellektuellen (Pasolini). Dann wechselt der Schauspieler auf die andere Seite der Tafel, an der sich das Geschehen abspielt, und trägt in ernüchternder Weise ein paar Gedanken des realen Shell-Vorsitzenden Cor Herkströter vor. Auf einmal ist die Macht leibhaftig geworden. Und sie argumentiert so klug und hinterhältig, dass einem dieses Mal nachdrücklich das Lachen vergeht. Der rhetorisch gewiefte Topmanager aktualisiert das moralische Knäuel von Pasolini um die unübersichtliche Wirklichkeit der globalisierten Welt, in der politische Ordnungsmaßnahmen versagen. Als Zuschauer sitzt man der Macht ohnmächtig gegenüber. Kein Theater, keine intellektuelle Analyse, auch kein Attentat kann diesen Mann aufhalten, ja selbst das Widersprechen fällt schwer. "Wohin wollen wir gehen?" fragt dieser Mann am Ende seines Vortrags.
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