Mit seinem Manifest zur Übernahme hat das neue Schaubühnenkollektiv den Mund ziemlich voll genommen. Demnach wird in Berlin am Lehniner Platz der Ensemblebegriff neu definiert, eine neue Theatersprache zu entwickeln versucht, das deutschsprachige Theater revolutioniert, indem man dem Sprechtheater den Tanz gleichberechtigt gegenüberstellt, es wird an der Repolitisierung der Gesellschaft gearbeitet und es wird die große moralische Frage aufgeworfen: "Wie sollten wir eigentlich leben?" Das ist viel. Es war zu erwarten, dass Ostermeier, Waltz und die anderen dafür etwas ungläubigen Spott über sich ergehen lassen müssen (vorzugsweise von den Älteren, die sich an ähnliche eigene Versuche noch lebhaft erinnern können), aber auch, dass sie Sy
Sympathie ernten würden. Nach den vier Eröffnungsinszenierungen kann man sagen: Sie meinen offensichtlich alles ernst.Die Tanzkritiker waren entsetzt, weil Sasha Waltz' cooles Körper-Stück viel von einer medizinisch-soziologischen Recherche und wenig von einem ästhetisch durchdeklinierten Tanzabend hat; die Theaterkritiker staunten, weil Thomas Ostermeier allen Ernstes die Realität der Außenseiter, eins zu eins, ohne dramaturgische Bodenhaftung, nachspielen lässt, mit komischen Choreographien mittendrin; von der sehr musikalischen, revuehaften Ubu!-Inszenierung (verantwortet von der Hausregisseurin Barbara Frey) zeigte man sich mehr wegen ihrer Harmlosigkeit irritiert; der abschließende Knüller war aber ein trockenes Star-Trek-Theorieseminar in Brechttradition (geleitet von Robert Schuster/Tom Kühnel vom Frankfurter TAT).In dem von einem Autorenkollektiv verfassten Stück mit dem Titel Das Kontingent (eine Art UN-Truppe der Zukunft) geht es um all die kniffligen Fragen, die während des Kosovokrieges eine gewisse Dringlichkeit erlangten. Da befand sich, zur Erinnerung, die abstrakte, gerechte Vernunft im Kampf mit der konkreten, grausamen Realität, in die man jedoch nur so viel eingreifen durfte, wie es einem die eigene demokratische Gesinnung erlaubte. Wie aussichtslos dieser Kampf ist, kann man aktuell in der zwangsgeteilten Stadt Koskokovska-Mitrovica beobachten, wo die tödlichen Auseinandersetzungen zwischen Albanern und Serben trotz eines großen Aufgebotes an Soldaten, Polizisten und internationalen Diplomaten nicht einzudämmen sind. Auf der Bühne wird das Beispiel eines Amerikaners verhandelt, der auszog, um das Gute auf der Welt zu verteidigen, und als Friedenssoldat in einem typischen Krisengebiet landet. Bald tauchen Zweifel auf. Was ist gut daran, eine Demokratie zu schützen, die sich den alten Diktator wieder zum Präsidenten wählt? Warum ist er nicht bei seinem Volk und seiner Familie, was hat er in einem fremden Land zu suchen, fragt ihn der Rebellenführer, der Nahrungsmitteltransporte überfällt, um seinen Clan zu ernähren. Als sich der Soldat mit Studenten solidarisiert, verschlimmert das letztlich deren Lage. Ein Journalist verhöhnt ihn, weil er zwar das Gute will, aber nur das Böse schafft. Von seinen Erlebnissen zermürbt, verlässt er schließlich seinen Posten, um auf der Seite derer zu kämpfen, von denen er glaubt, dass sie im Recht sind. Seine Kollegen vom Kontingent erschießen ihn als "Verräter" an der Neutralität und werden von einem Tribunal dafür frei gesprochen. Ein kleines Kammerorchester spielt dazu die Hymne: "Glückliche Menschen, glückliche Völker, glückliches Jahrtausend". Das alles ist der Maßnahme von Brecht nachempfunden und wird im Stil eines lehrhaften Oratoriums von den einheitlich gekleideten Akteuren emotionslos aufgeführt. Der Applaus des Publikums ist dann auch wie das Stück: engagiert. "Unsere Jungs sind doch gerade im Kosovo", hört man es nach der Vorstellung im Foyer betroffen flüstern.Das Kontingent kommt als ein guter, dialektischer, völlig humorloser Besinnungsaufsatz daher. Zwar lugt zwischen den Szenen (bei den Liedern vor allem, die ständig gesungen werden) etwas Ironie hervor, aber so dass man darüber lachen kann, ist es nicht gerade. Die Ironie ist eher grimmig. Sie tut nicht augenzwinkernd so, als sei im Prinzip alles okay, ganz im Gegenteil, sie wird dazu benutzt, ein widersprüchliches Szenario in eine strenge Form zu zwängen und alle Fragen offen zu lassen. Anschließend wünschte man sich ausnahmsweise ein Publikumsgespräch.Kinogänger, erklärtermaßen die Zielgruppe der neuen Schaubühne, wird man mit solchen Inszenierungen kaum für Theater begeistern und ans eigene Haus binden können. Schon eher könnte das mit leichten Späßen in der Art von Ubu! gelingen. Das Dada-Urstück von Alfred Jarry ist von Barbara Frey (die, die Aufführung am Schlagzeug live begleitet) als ein sanfter, rätselhafter Klamauk eingerichtet, der alleine von der Musikalität lebt. Mit etwas gutem Willen könnte man sagen, da wird die Geburt der Pop-Unterhaltungsgesellschaft aus dem Geist der Moderne behauptet, oder: da wird Politik als jämmerlicher Spaß vorgeführt. Kohl als Ubu? Aber nicht wirklich. Die Andeutungen werden von einem sentimentalen Rhythmus, kaum sind sie entstanden, sofort wieder verweht. Es soll einfach nur Spaß sein, hier stellt sich eine Regisseurin mit ihrem Theatermodell vor. Auffällig ist eine leise Wehmut, die man auch im ausufernden Außenseiter-Schau-Spielen von Thomas Ostermeier entdecken konnte. In seiner Inszenierung von Lars Noréns Personenkreis 3.1 entsteht auf einer nackten Bühne ein Sittengemälde der Gescheiterten. Während eine lose Bande von Alkoholikern und Junkies auf einem öffentlichen Platz am Rande der Gesellschaft ihre verzweifelt-fröhlichen Treffen abhält (mit Schauspielern, denen es gelingt, so echt wie auf der Straße zu wirken), passieren sichtlich gut situierte Bürger jeden Alters diesen Platz auf dem Weg zur Arbeit, zur Schule oder zum Einkauf. Ein Bild der "Zwei-Drittel-Gesellschaft". In kleinen, nebensächlichen Berührungen zwischen den krass unterschiedlichen Lebenswelten liegt die eigentliche Brisanz dieser Inszenierung. Würde diese fast unmerkliche Reibung zu einem zündenden Gemisch werden, dann stürzte die Welt, wie wir sie im Moment kennen, zugunsten einer anderen Welt zusammen. Zumindest auf der Bühne. Aber solchen Hoffnungen steht einstweilen noch Ostermeiers verbissenes Ringen mit dem von ihm postulierten Realismus seines Theaters im Wege.So ist im Moment wohl die choreographische Arbeit von Sasha Waltz das reifste und stärkste Glied in der Kette. Waltz gelingt es scheinbar mühelos, die eigenen Ansprüche nach einer starken Inhaltlichkeit mit wilden Überraschungen und einer faszinierenden Ästhetik zu kombinieren. Die Sprechtheaterfraktion hat die richtige Mischung aus analytischem Scharfsinn und spielerischer Entrückung noch nicht gefunden. Und um diese Mischung müsste es schon gehen, wenn man ein scharfes, aufregendes Theater sein will. Kurioserweise ist zwischen allem Neuanfang eine gewisse (trotzige) Sentimentalität nicht zu übersehen. Das schwedische Sozialdrama, die (harmlose) Spießbürgerposse und Brecht als Schulmeister, das sind zweifellos in ihrer Unzeitgemäßheit skurille Einfälle, aber sind es auch die geeigneten Instrumente, um das "orientierungslose" Bewusstsein zu schärfen? Ein zeitgenössisches Theater bräuchte tatsächlich eine kluge Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse. Es müsste genau wissen, in welchem kulturellen Umfeld es sich bewegt, wie sich die Kultur zur Politik und zur (privaten) Gesellschaft verhält, was das heutzutage ist: Öffentlichkeit. Das Theater leidet ja vor allem darunter, dass es gar nicht mehr richtig weiß, wie es außerhalb der Bühne funktioniert. Um davon wieder etwas mitzubekommen, ist ein guter Kontakt zwischen Theater und Publikum unerlässlich.Die demonstrative Ernsthaftigkeit der Auftakt-Inszenierungen an der Schaubühne nimmt, so gesehen, manchmal etwas groteske Züge an, aber sie signalisiert immerhin, dass man an einer inhaltlichen Auseinandersetzung interessiert ist. Dass man sich als interessierter Zeitgenosse ernst genommen fühlt, ist wiederum eine gute Voraussetzung für weitere Diskussionen. Dazu fehlt es diesem Theater allerdings noch etwas an Wärme, an der nötigen Lust und Leidenschaft. Man hat sich im Zuge des symbolischen Neuanfangs sehr der nüchternen Architektur des Hauses angeglichen. Alle vier Bühnenbilder haben etwas Schroffes, Abweisendes. Als ob sich das junge Schaubühnen-Team vor etwas schützen müsse.
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