Um in Ruhe an einer längeren Geschichte zu schreiben, hatte ich mich aus dem öffentlichen Leben zurück gezogen. Das Telefon war abgestellt. Lange Spaziergänge im Park und abendliches Radio hören waren meine wesentlichen Außenkontakte. Ab und zu ging ich in die Kneipe an der nächsten Ecke, um ein bisschen normales Leben zu atmen. Ich habe ihn nicht sofort bemerkt. Mit seinen kurzen Haaren, kariertem Hemd, blauen Jeans und schwarzem Gürtel fügte er sich unauffällig in die Kneipenbevölkerung. Er saß meist schweigend vor einer Tasse Kaffee und starrte in die Ferne, die es nicht gab. Eines Abends sah ich ihn auf meinem Weg zur Kneipe aus einem Taxi steigen. Das überraschte mich.
Mein Bild von Berliner Taxifahrern war von einer früheren Episode in meinem Leben geprägt, als ich vorübergehend mit einem Taxifahrer zusammen wohnte. Da wir beide nachts arbeiteten, trafen wir uns morgens immer in der Küche. Er erzählte von den Nachttouren, den Kollegen, dem Warten, dem schmutzigen Geld und der Stadt, die niemals schläft und ich hörte aufmerksam zu. Durch diese Erzählungen prägte sich mir ein etwas quasseliger, tendenziell dickbäuchiger Berufsberliner mit Berufsschnauze und oftmals ohne das zugehörige Berufsherz als Hauptvertreter dieses Berufsstandes ein.
Der Taxifahrer in der Kneipe jedoch schien aus anderem Holz zu sein. Bei näherem Hinsehen hatte er etwas von einem Cowboy an sich, nur die Turnschuhe störten diesen Eindruck. Ich vermutete, dass er sie aus Gründen der Bequemlichkeit trug. Ansonsten war durch Beobachtung wenig über ihn zu erfahren. Er folgte einem festen Ritual, kam immer zwischen neun und zehn Uhr abends, setzte sich an den gleichen Platz am Tresen, bestellte einen Kaffee, trank ihn schweigend, bezahlte und ging. Ich war öfter in der Kneipe als es für meine Arbeit gut war, und soweit ich es überblicken konnte, kam er jeden Abend vorbei. Ich fing an, mir Fragen zu stellen. Ob er noch ein anderes Leben führt? Ob er Freunde, eine Frau oder gar Familie hat? Ob er als Taxifahrer auch so schweigsam ist? Aber am meisten fragte ich mich, was er empfand, wenn er da draußen unterwegs war.
Es war berufsmäßige Neugier und sie hing mit der Geschichte zusammen, an der ich gerade arbeitete. Unversehens befand ich mich in einer Recherche, die ich längst abgeschlossen glaubte. Ich stellte mich zu ihm an den Tresen und bestellte ebenfalls Kaffee. Dann bat ich ihn freundlich, mir den Zucker herüber zu reichen. Er tat das schweigend, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Ebenfalls ohne aufzublicken, sagte ich deutlich: "Ohne guten Kaffee kommt man nicht durch die Nacht, was?" Er schaute kurz herüber. "Was geht Sie das an", gab er zurück und es klang nicht wie eine Frage. Ich antwortete trotzdem: "Oh, es geht mich natürlich gar nichts an. Ich habe nur zufällig gesehen, dass sie Taxifahrer sind, und da ich das aus beruflichen Gründen interessant finde, habe ich soeben einen, zugegeben: etwas plumpen, Versuch unternommen, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen." Er rührte in seinem Kaffee, als sei dort etwas zu finden. Es war mir zumindest gelungen, ihn neugierig zu machen. Nach einer kurzen Weile erneuten Schweigens fragte er mich, was mein Beruf sei. Ich sagte: "Schriftsteller." Und das war es. Er rührte noch einmal, trank aus, zahlte und ging, ohne ein Wort zu sagen.
Ich wartete einige Wochen. In dieser Zeit mied ich die Kneipe in den Abendstunden. Ich beobachtete von der Straße aus seine Angewohnheit, nach Verlassen der Kneipe zunächst mit erloschenem Taxilicht bis zur nächsten Ecke zu fahren, und nach dem Einbiegen in die Hauptstraße seine Leuchte anzuschalten, zum Zeichen, dass er nun für Fahrgäste bereit sei. Eines Abends postierte ich mich dort und winkte ihn heran. Er hielt an, ich stieg ein und setzte mich schweigend auf die Rückbank. Mit überraschend höflicher Stimme fragte er mich, wo es hingehen soll. Er hatte mich nicht erkannt. Zumindest ließ er es sich nicht anmerken.
"Haben Sie etwas Zeit", fragte ich. "Ich habe die ganze Nacht Zeit." "Gut", sagte ich. "Ich habe kein genaues Ziel, ich will nur ein bisschen durch die Gegend fahren." "Sie wollen eine Stadtrundfahrt machen?" "Wie Sie wollen. Hier sind 200 Mark. Fahren Sie wohin sie wollen. Mir ist es völlig egal. Es ist ihre Fahrt. Ich bezahle ihnen ihre Lieblingstour. Sie haben die Wahl." "Meine Lieblingstour ist ohne Fahrgast." "Betrachten Sie mich als nicht anwesend. Ich werde schweigen und mich nicht rühren, bis die Zeit abgefahren ist." "Für 200 Mark?" "Ja, inklusive Trinkgeld."
Er schaltete die Uhr ein, schob eine Kassette in den Autorecorder und fuhr los. Die Musik war mir unbekannt. Jazzige Blubbermusik, mit etwas Elektronik durchsetzt. Ich lehnte mich zurück und sah aus dem Fenster. Ich kannte mich recht gut aus in der Stadt, hatte mit dem Rad schon viele Ausflüge in alle Richtungen unternommen. Mit dem Auto fuhr ich allerdings selten und so genoss ich die gleitende Perspektive. Der Verkehr war mäßig, es war ein ganz normaler Dienstagabend und wir fuhren durch lange gesichtslose Straßen Richtung Norden. Öde Randstadtverhältnisse, abweisend, dunkel, undefinierbares Gelände auf beiden Seiten der Straße. Dann passierten wir überraschend eine kleine Kirche, und als sich ein Verlassen der Stadt ankündigte, bogen wir über eine hell erleuchtete Kreuzung in eine steinerne Landschaft ein.
Ich erkannte sofort das Märkische Viertel, ich hatte darüber gelesen. Eine gigantische sozialdemokratische Fehlplanung im Nordosten Westberlins, jahrzehntelang ohne eigenen U-Bahnanschluss, obwohl von der Größe einer mittleren Stadt. Eine bizarre Anordnung von Hochhäusern, in denen sich zu orientieren ein pfadfinderisches Gespür erfordert. "Merkwürdiges Viertel" sagte der Volksmund dazu. In der U-Bahn hatte ich einmal ein Gespräch zwischen Vater und Sohn belauscht, die von dort stammten. Der Junge wollte unbedingt weg, sobald er alt genug dafür ist und der Vater hat das nicht verstehen wollen. "Wieso, ist doch schön hier! Ist doch alles da! Was willste denn weg? Wo willste denn hin?" - "Es ist totale Scheiße hier. Das ist das allerletzte, asoziale Viertel. Hier leben nur Kranke und Bekloppte wie du." -"Ach, du hast doch keine Ahnung wie es woanders ist. Hier ist es gut. Was willste denn weg? Wo willste denn hin?" - "Nach Düsseldorf." - "Nach Düsseldorf? Spinnst du denn völlig. Nach Düsseldorf? Was willste denn in Düsseldorf?" - "Da ist es schöner als hier." - "Du bist doch noch nie in Düsseldorf gewesen?!" - "Na und, auf alle Fälle ist es dort schöner als hier."
Während ich mich noch an diese Szene erinnerte, hatten wir das Viertel schon wieder verlassen und rumpelten auf einer Kopfsteinpflaster-Straße an einer Straßenbahnlinie entlang. Vorstadt, kleine Bürgerhäuser mit Garten. Der Streckenverlauf wurde wechselhafter, wir bogen rechts ab und links, und wieder rechts und jede Ordnung ging verloren. Die Stadt verwandelte sich in ein wildes Gemisch aus Kleingartenkolonien, öden Straßen, Reihenhäusern, grünen Alleen, Fünfziger-Jahre-Scheußlichkeiten, Bürgerhäusern, leeren Flächen mit Schuppen, dann wieder eine breite Verbindungsstraße. Das Auto fuhr ruhig und gleichmäßig. Er achtete darauf, dass die Tachonadel nicht über 55 kletterte, beschleunigte langsam und bremste rechtzeitig ab. Der Mann fuhr wie auf Schienen und achtete darauf, dass wir möglichst selten zum Stehen kamen. Er kannte alle Ampelschaltungen genau. Auf manche Kreuzungen fuhr er ohne abzubremsen zu, obwohl die Ampel auf Rot stand, und exakt im Moment, als wir passierten, sprang sie auf Grün.
Die Musik war etwas rhythmischer und noch elektronischer geworden. Ich hatte den Eindruck, dass er sich langsam in Trance fuhr. Wir waren in eine breite Ausfallstraße eingebogen, die wie ein breiter Canyon zwischen Nirgendwo und neuer Welt planiert war. Rechts schien Wüste zu sein, und ich wusste, weit dahinter war irgendwo die Stadtmitte. Links blinkten kleine Lichter aus einem Hochhausmeer wie Sterne im All. Über eine geschwungene Brücke schwebten wir mitten hinein in dieses Lichtermeer und ich begriff zum ersten Mal, warum "Allee der Kosmonauten" der beste aller Namen für diese Einflugschneise ist. Am Tag hatte ich hier immer nur eine trutzig-verschrobene Behauptung gesehen, aber jetzt in der Nacht lag ein visionärer Schimmer über der Häuser-Galaxis. Das hier war der Traum von einer besseren Welt gewesen. Eine gigantische Siedlung von Pionieren. Keine Stadt mehr, sondern die Neuordnung des menschlichen Universums. Ich suchte in meiner Erinnerung nach einer vergleichbaren Empfindung und mir fiel eine Nacht am Meer ein, wenn draußen am Horizont die Positionslichter der Schiffe vorbeiziehen. Diese Vision war so weit wie sie eng war, so kühn wie kühl, so verloren wie zuversichtlich. Scheinbar ein Außenposten der Zivilisation, aber er gehörte zu der Stadt, in der ich lebe und ich schämte mich in diesem Moment für die Arroganz des Innenstadtbewohners, der mit der gleichen provinziellen Einfältigkeit über seinen Kiez und die paar Stationen bis zum kulturellen Geschehen spricht, wie ein Bauer über sein Dorf und seinen Acker, und dabei glaubt, er rede von der Welt.
In meinem Kopf entstand ein Bild moderner Wildnis und ich hatte längst meine Mission vergessen, als er auf einmal die Musik leiser drehte und anfing zu sprechen: "Fast alles an dieser Stadt ist Peripherie. Sie hat kein Herz, aber viele kranke Seelen wohnen in ihr. Wo du hinkommst, blutet diese Stadt und wenn sie einmal zu bluten aufhört, wird sie tot sein. Es gibt schon tote Stellen, vor allem im Südwesten und im Nordwesten ist die Stadt bereits gestorben, aber sonst blutet sie aus tausend Wunden. Jeder Blutbach mündet in den großen Strom der Sehnsucht, in dem diese Stadt umhertreibt. Diese Sehnsucht zieht Menschen an, die glauben, hier etwas zu finden, was es anderswo nicht gibt. Es gab eine Zeit, da hatte diese Stadt etwas Paradiesisches an sich. Eine Kuschelecke, ein süßer Alptraum ist es gewesen, im Osten wie im Westen, wattig und gut gepolstert. Jetzt sind die Kissen verrutscht und die Kanten werden sichtbar. Gesichtslose Lügner kommen in die Stadt und behaupten eine Ordnung, die es nicht gibt. Aber sie werden von der Natur dieser Stadt gefressen werden. Die Stadtnatur ist grausamer als der Dschungel, weil ihre Geheimnisse lautloser sind. Wer überleben will, muss sich dieser Natur anvertrauen. Wir sind da."
Er hielt rechts an. Die Taxiuhr stand auf 190 Mark. Ich reagierte wie betäubt, gab ihm, ohne zu zögern, die 200 Mark und stieg aus. Ich hatte keine Ahnung wo ich war. Ich fühlte nur eine tiefe Sehnsucht nach Heimat, nach meiner Wohnung, meinen Büchern und nach meiner Schreibmaschine.
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