Satt leuchten die Grünanlagen in Technicolor, durch das Bild laufen Mädchen in weißen Sommerkleidern, im Hintergrund türmen sich Wohnungen, elf Stockwerke hoch. St. Louis, Missouri, im Jahr 1954: Ein Werbefilm zeigt den Einzug der ersten Familien in die Großsiedlung Pruitt-Igoe am Nordrand der Innenstadt. 33 moderne Hochhäuser für 15.000 Menschen, die noch bis vor Kurzem in Slums wohnten.
Das Jahr 1972. Erneut zeigt das Fernsehen Bilder aus Pruitt-Igoe, nun menschenleer. Die Sprengung der Gebäude wird von Fernsehstationen landesweit übertragen. Ein Fotograf fängt den Moment ein, in dem eines der Hochhäuser zu Staub zerfällt. Das Bild wird zur Metapher und Pruitt-Igoe zum Symbol für das Scheitern des sozialen Wohnungsbaus, der modernen Architektur und des Wohlfahrtsstaats überhaupt. In nur 18 Jahren hatten seine Bewohner – so schien es 1972 – aus der Oase in der Wüste eine Hölle auf Erden gemacht. Minoru Yamasaki, der Architekt der Siedlung, wünschte sich, den Job nie angenommen zu haben: „Ich habe nicht geahnt, wie zerstörerisch Menschen sein können.“ Der Niedergang von Pruitt-Igoe vollzog sich erschreckend schnell und schien unumkehrbar. Erklärungen für diesen Niedergang reichten von Stammtischparolen – das passiere eben, wenn man Steuermillionen an Slumbewohner verschwende – bis zu architektursoziologischen Traktaten. Einig war man sich 1972 jedoch in einem Punkt: Alle Hoffnungen, die man in die Mustersiedlung gesetzt hatte, beruhten auf falschen Annahmen. Eine zweckmäßige Architektur hatte keine neue Gesellschaft erschaffen, sondern für Vandalismus, Kriminalität und Chaos gesorgt.
Vision "Strahlende Stadt"
Pruitt-Igoe war ein Produkt des unerschütterlichen Glaubens der Amerikaner an Fortschritt und Wachstum, auch ihres Willens, die Großstädte nicht zu Kampfarenen verkommen zu lassen, in denen soziale Gegensätze aufeinanderprallten. Mit seinem Housing Act von 1949 legte Präsident Harry S. Truman das Fundament für den geförderten sozialen Wohnungsbau und für die – ausdrücklich so bezeichnete – „Säuberung der Slums“.
In St. Louis träumte um diese Zeit Bürgermeister Joseph Darst von einem „Manhattan am Mississippi“, inspiriert durch den Architekten Le Corbusier und seine Vision der „Strahlenden Stadt“. Von Parks umgebene Hochhaussiedlungen mit Licht und Luft für Geringverdiener sollten kein Selbstzweck sein, sondern den Bewohnern helfen, mit „verbesserten physischen, spirituellen und ökonomischen Möglichkeiten die Traditionen der Demokratie weiterzuführen“. Noch 1949 begann man das Viertel De-Soto-Carr zu entmieten und abzureißen. Die Bewohner – 75 Prozent davon Afroamerikaner – erhielten das Angebot, in vier neue Großsiedlungen zu ziehen, eine davon war auf dem Gelände eines ehemaligen Slumviertels errichtet: Pruitt-Igoe. Die nach dem schwarzen Piloten Wendell O. Pruitt und dem weißen Abgeordneten William L. Igoe benannte Doppelsiedlung sollte nach Schwarz und Weiß getrennt belegt werden. Auch wenn im Mai 1954 die Rassentrennung für verfassungswidrig erklärt worden war, funktionierte das Zusammenleben nicht im Geringsten. Pruitt-Igoe verwahrloste. Wer es sich leisten konnte, zog wieder weg, darunter fast alle weißen Bewohner.
Die Siedlung wurde zum Schandfleck. Ein gefundenes Fressen für Journalisten. Sie zoomten auf demolierte Fenster, Autowracks und mit Abfall übersäte Hausflure. Pruitt-Igoe schien ein monströses Desaster, es wirkte gefährlich, keiner konnte den Blick abwenden. Der Tonfall der Berichte schwankte zwischen Abscheu und Mitleid. Die Aufzüge stanken nach Urin, weil es keine Toiletten für die Kinder gab, die zwischen den Häusern spielten. Spielplätze wurden zerstört, die man gerade erst auf Bitten der Mütter eingerichtet hatte. Kritiker gaben den Architekten und ihren übertriebenen Idealen eine Mitschuld an all der Degeneration. Unter anderem waren die Fahrstühle so konstruiert, dass sie nur in jedem dritten Stockwerk hielten. So sollten die Bewohner gezwungen werden, sich in den Treppenhäusern zu begegnen und nachbarschaftliche Beziehungen zu pflegen. Aber die Flure blieben anonym, niemand fühlte sich verantwortlich. Zerschlagene Lampen wurden nicht ersetzt. Bald trafen sich Drogendealer in den dunklen Gängen. Ende 1971 lebten nur noch etwa 600 Menschen in 17 Pruitt-Igoe-Hochhäusern. Die inzwischen leer stehenden Wohnmaschinen wurden zum Schauplatz von Bandenkriegen. Schließlich gab die Lokalpolitik entnervt auf. 1972 wurden die ersten Blocks gesprengt. Der Architekturhistoriker Charles Jencks kommentierte: „Dies war der Tag, an dem die moderne Architektur starb“.
Man zog Lehren aus Pruitt-Igoe. Und Konsequenzen natürlich. Der Politologe James Q. Wilson formulierte seine „Broken-Windows-Theorie“ zwar erst zehn Jahre nach dem Abriss, zog jedoch die Siedlung als Paradebeispiel heran. Die sei gescheitert, weil sich niemand für Ordnung verantwortlich gefühlt habe und kleinere Delikte wie das Einwerfen von Scheiben nicht sofort bestraft wurden. Pruitt-Igoe wurde zum Argument, um Sozialausgaben zu kürzen, und zur willkommenen Vorlage für Nulltoleranz-Strategen. Die einstigen Bewohner mussten mit dem Stigma urbaner Asozialität leben.
Verbitterung ist geblieben
Seit einigen Jahren jedoch beginnen Soziologen, Pruitt-Igoe mit anderen Augen zu sehen, was die öffentliche Meinung freilich kaum beeindruckt. „Ich kenne Menschen, die sich schämen, dass sie in Pruitt-Igoe gelebt haben“, sagt Ruby Russell, die keine Skrupel hat, von Pruitt-Igoe als Heimat zu sprechen. Regisseur Chad Friedrichs hat sie für seinen Dokumentarfilm The Pruitt-Igoe Myth interviewt und die Aussagen mit Bildsequenzen von einst montiert. Er hat Städteplanern und Architekten zugehört, denen die Wohnblocks von Pruitt-Igoe wie „Penthäuser für die Armen“ erschienen.
Sicher erzählen sie auch vom Verfall des Quartiers, plötzlich aber hört sich die Geschichte anders an. Der Film erinnert daran, dass vor vier Jahrzehnten die Gegner des sozialen Wohnungsbaus durchsetzten, Instandhaltung durch Mieteinnahmen zu finanzieren. Eine Rechnung, die unter anderem deshalb nicht aufgehen konnte, weil keine arbeitsfähigen Männer in Pruitt-Igoe leben durften. Im Zweifel mussten sich die Familien trennen. Als das Budget für Wartungen aufgebraucht war, erhöhte die Stadt St. Louis die Mieten und privatisierte Zufahrtswege, um Kosten für die Müllabfuhr zu sparen. Im Winter fiel die Heizung aus, Rohre platzten, eiskaltes Wasser lief in die Wohnungen. Je stärker die Öffentlichkeit Pruitt-Igoe als Gefahr wahrnahm, desto weniger waren Sozialarbeiter und Polizisten bereit, sich den Hochhäusern zu nähern. Die Wut der Bewohner wuchs, sie fühlten sich wieder einmal dafür bestraft, arm zu sein. Ein neunmonatiger Mietstreik war der erste, den es im sozialen Wohnungsbau der USA gegeben hat. Aber niemand wollte den Hilfeschrei hören.
Die Verbitterung darüber ist ebenso geblieben wie die Erinnerung an funktionierende Hausgemeinschaften und Geborgenheit. Die frühere Mieterin Jacqueline Williams sagt in The Pruitt-Igoe Myth: „Ich weiß, dass viel Schlechtes von dort kam, aber ich denke, das Gute überwiegt.“ Wenn die Geschichte überhaupt eine Moral habe, so sieht es Regisseur Chad Friedrichs, dann diese: „Man muss sich der Amerikaner erinnern, die von den Veränderungen nach dem Krieg am stärksten betroffen waren. Farbigen Menschen erlaubte man nicht, am Wohlstand teilzuhaben. Wenn sich unsere Städte nun erneut verändern, habe ich die Hoffnung, dass diese Gruppe nicht wieder zurückgelassen wird.“ Darum sollten städtebauliche Versuche wie Pruitt-Igoe nicht per se verteufelt, sondern differenziert beurteilt werden. Nur dann werde es möglich sein, dass der Wandel von Städten beherrschbar bleibe. Sein Film sei ein Anfang.
Stefanie Hardick ist Historikerin und freie Journalistin in Berlin
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