Für Maud und Albi Rosenthal in Oxford
Im Frühjahr 1934 trafen sich in Nizza gelegentlich einige der Naziherrschaft entkommene Schriftstellerkollegen. Ihr erster Winter in der Fremde war vorüber. Sie kamen alle aus einem seltsamen Land, das sie »Bei-uns-zu-Hause« nannten. Einen trafen sie hier regelmäßig, bei dem sie, die »les-chez-nous«, wie man sie bald nannte, mit ihrer Klage der Entwurzelung nur helles Lachen ernteten. Das war, das wussten sie noch nicht, wahrscheinlich der erste wirkliche Europäer, den sie sahen: nämlich der Arzt und Publizist Oscar Levy (1867 - 1946). Der war schon sein halbes Leben lang Emigrant, in England, der Schweiz und Frankreich. Er hatte längst keine deutschen Papiere mehr. Er zeigte seinen
e mehr. Er zeigte seinen neuen Schicksalsgenossen, wie man sich dennoch selbst erhalten kann, sozusagen übernational (wenn auch zunächst erzwungenermaßen), in der Einübung einer - vorerst geistigen - europäischen Existenz.Oscar Levy, ein pommerscher Jude, studierte in Freiburg Medizin, promovierte 1891 und verließ kurz darauf das Wilhelminische Deutschland, unter anderem weil er, wie er am 30. November 1913 an Georges Chatterton-Hill schrieb, »never known a nation so brutally chauvinistic«. Er ging nach England. Aber er wollte nicht einfach bloß die Nationalität wechseln. Vielleicht bloß ein Brite zu werden, das hielt er für irrelevant. Vielmehr kultivierte er eine ganz eigene Mitte zwischen Integration und Abgrenzung. Er betrieb eine kulturelle Symbiose zwischen dem kontinental-kulturell Besten, das er mitbrachte und - wie er hoffte - einer aristokratischen Noblesse des Empire. Er setzte darauf, dass dabei vielleicht etwas die national-üblichen kulturellen Werte und selbstbezüglichen Standards Übersteigendes entstehen könnte. Was Levy dabei vorschwebte, waren Umrisse für eine »Neue Renaissance«. Dafür versuchte er ein kritisches Ferment, nämlich die Ideen Nietzsches in den britischen Geist zu implantieren. Er fand den Boden dafür schon bereitet, unter anderem in ähnlichen Versuchen der 1903 in London gegründeten Zeitschrift Notes for Good Europeans. Vor diesem Hintergrund publizierte Levy in schneller Folge zwischen 1909 und 1913 eine 18-bändige englische Nietzsche-Ausgabe. Diesem geistigen Reservoir entnahm er dann das kritische und begriffliche Inventar für seine eigenen zeit- und zivilisationskritischen Diagnosen. Levy untersuchte und kritisierte vor allem dasjenige, was er als den inneren Zusammenhalt in allen Nationen seiner Zeit bemerkte: ein Überlegenheitsgefühl Anderen gegenüber, Missachtung des (rassisch oder religiös) Fremden, Militarismus und vor allem ein quer durch alle Konfessionen bemerkbares religiöses Sonderbewusstsein der je eigenen Gemeinschaft. Levy setzte sich damit natürlich zwischen alle Stühle. Denn der böse Geist des Nationalismus blieb in allen Nationen virulent. Als dann der große Krieg der »nationalen Derwische« (Levy) begann, wurde in England gerade seine große kulturelle Leistung, die Nietzsche-Ausgabe, als hunnische Konterbande identifiziert. Ein Slogan machte in London die Runde: »The Euro-Nietzschean War. Read the Devil in order to fight him the better«. 1915 musste Levy seine Insel verlassen.Nach den Schreckenserfahrungen des Krieges war jener schreckliche Geist allerdings nirgends besiegt, kaum blamiert. Obwohl sich die bekanntesten britischen Intellektuellen wieder für ein Aufenthaltsrecht Levys in Großbritannien vehement einsetzten, gelang das nicht. Er erhielt daraufhin den eben gestifteten ersten Nansen-Pass.Levys Publizistik betraf fortan Untersuchungen zu den geistesgeschichtlichen Zusammenhängen jener dunklen ideologischen Kräfte, wie Antisemitismus, Nationalsozialismus und Bolschewismus, an denen Europa zu zerbrechen drohte. Er begriff die beiden zeitgenössischen Erlösungsfantasien als verquere Aufnahme biblischer Quellen: die »Rassenerlösung« der Nazis sei eine säkulare Abirrung mit Versatzstücken des Alten Testaments, ebenso wie die »Klassenerlösung« in Russland eine entsprechende im Horizont des Neuen Testaments.Vor allem seit Sommer 1933 warnte Levy, dass die nationalistischen Isolationen nach außen und Säuberungen nach innen, mit denen einige der wichtigsten Nationalstaaten Europas aus der europäischen Geschichts- und Kulturkontinuität ausbrechen wollten (namentlich der National-Sozialismus, aber auch der bolschewistische Sozialismus in einem Lande), viel mehr sein werden als nur eine vorübergehende »Verrücktheits-Episode«. Gerade so aber hatte Thomas Mann damals in einem Gespräch mit Oscar Levy vom 28. Mai 1933 die jüngsten Ereignisse in Deutschland verstehen wollen.Erneut widmete sich Levy - jetzt im französischen Exil - mit seiner ganzen publizistischen Kraft wieder der Verteidigung des Werkes von Friedrich Nietzsche, diesmal gegen seine volksdeutsche Vereinnahmung. Levy unterstützte mit diesen Beiträgen vor allem Leopold Schwarzschild und seine deutschsprachige Exilzeitschrift Das Neue Tage-Buch, die von Juli 1933 bis Mai 1940 in Paris erschien.Sein letztes, 1940 in London veröffentlichtes Werk, The Idiocy of Idealism, versucht sich an einer ideengeschichtlichen Naturgeschichte von Diktatoren und Erlösern. George Bernard Shaw empfahl dieses Buch, das zu einer umfassenden Selbstbesinnung und Selbstkritik des christlich-idealistischen Europa aufrief, um zu erkennen, dass das Böse nicht von draußen zu uns kam, sondern aus den Tiefen unseres Ureigensten.Oscar Levy verließ 1939 mit seiner Tochter Maud Frankreich, er ging zurück nach England. In Oxford starb er am 13. August 1946.