Sehnsucht Europa

Pathos Den Intellektuellen fiel es bisher leicht, auf Brüssel zu schimpfen. Nun beginnen sie, für die europäische Idee zu brennen. Endlich
„Vollende, was die europäischen Pioniere einst begonnen haben.“ Braucht Europa mehr europäisches Pathos?
„Vollende, was die europäischen Pioniere einst begonnen haben.“ Braucht Europa mehr europäisches Pathos?

Illustration: Der Freitag, Material: Gerard Cerles / AFP / Getty Images

Okay, nicht alle Versuche müssen sofort Applaus finden: „Unser Vaterland ist von jetzt an Europa. Unsere Hymne die ,Ode an die Freude‘. Und unsere Fahne zeigt zwölf Sterne auf himmelblauem Grund“, schreiben der Grüne Daniel Cohn-Bendit und der liberale Ex-Premier Belgiens Guy Verhofstadt allen Ernstes in ihrem soeben als Buch erschienenen Manifest Für Europa! Stakkato-Sätze, apokalyptischer Duktus, regelmäßig eingestreute Slogans – Verhofstadt und Cohn-Bendit nutzen Propaganda-Mittel, an deren Wirkung schon lange niemand mehr zu glauben wagte. Sie schrecken nicht einmal davor zurück, den Leser per Du aufzufordern: „Vollende, was die europäischen Pioniere einst begonnen haben.“

Dass solche Sätze leicht befremdlich wirken, braucht man nicht zu betonen. Dennoch stellt sich die Frage, warum Pathos im Zusammenhang mit Europa generell fehl am Platz sein sollte. Ja, mehr noch: Braucht die Idee eines demokratischen Europa in dieser Zeit nicht wirklich eine starke Sprache, wenn sie nicht unter dem vorgeblichen Gewicht der Finanzkrise ersticken will? Braucht es nicht tatsächlich ein kräftiges Gegengewicht zur kühlen Rhetorik der Alternativlosigkeit? Schließlich suggeriert die Sprache der Technokraten ja auch, dass das supranationale Wirtschaftsregime so bürgerfern bleiben muss, wie es zurzeit ist.

Es scheint, dass die Intellektuellen das vermehrt auch so sehen. Noch Ende 2011 begegnete man einem Aufruf der Zeit lieber mit dem Hinweis, ein kapitalistisch verfasstes Europa sei per se nicht demokratisierbar. Inzwischen registriert man einen offeneren Umgang mit Visionen für Europa – nicht nur bei Cohn-Bendit, der eine Kurzform seines Manifests schon im Mai zusammen mit dem Soziologen Ulrich Beck und zahlreichen weiteren Intellektuellen veröffentlichte. Auch der österreichische Schriftsteller Robert Menasse hat unter dem auf Georg Büchner anspielenden Titel Der europäische Landbote eine Verteidigung Brüssels auf den Markt gebracht. Und auf dem Zeitschriftenmarkt erscheint seit vergangener Woche das vor drei Jahren gegründete Online-Magazin The European nun auch als Printtitel – mit einer festen Rubrik für Interviews über die Zukunft Europas.

Frieden allein zieht nicht mehr

Es ist ja ein alter Vorwurf, dass die Kulturschaffenden sich nicht um das Zusammenwachsen von Europa kümmerten, dass sie gar die Begeisterung für dieses „Jahrtausendprojekt“ vermissen lassen. Abgesehen davon, dass sich Begeisterung schwer einfordern lässt, kam die europäische Staatengemeinschaft bisher auch ohne Beistand von Intellektuellen rasch voran. Sie riss die Grenzen zwischen den Mitgliedsstaaten ab, schaffte eine übernationale Währung und sog nach 1989 einen großen Teil der osteuropäischen Länder in sich hinein. Es scheint sogar so, als rührte der historische Aufstieg der Europäischen Union gerade daher, dass sie ihre Macht ohne Pathos ausübte und keines der neuen Mitglieder zwang, sein Nationalnarrativ für eine andere, „europäische Erzählung“ aufzugeben – abgesehen von der Floskel, dass doch in Zukunft Frieden herrschen solle.

Im Interview mit dem European antwortet Frank-Walter Steinmeier auf die Frage nach dem, was Europa verbindet, pflichtschuldig mit einem Zitat des luxemburgischen Premiers Jean-Claude Juncker: „Wenn du einem jungen Menschen den Sinn von Europa erklären willst, dann gehe mit ihm über einen Soldatenfriedhof“. Doch die Rede von Europa als Friedensprojekt wirkt auf jüngere Generationen kaum mehr. Und so fordert selbst SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück nun eine „neue Erzählung“ für Europa. In seiner Ende 2010 erschienenen Biographie hatte er die Idee eines transnationalen Union noch als „Wolkenkuckucksheim“ bezeichnet. Helmut Kohl fleht wiederum Angela Merkel an, sich die EU auch jenseits der Finanzkrise zur Chefinnensache zu machen. Und der faktische Bundespräsident Helmut Schmidt trifft den formalen Amtsinhaber Joachim Gauck zum TV-Talk, um den Deutschen klarzumachen, dass die Idee Europas über Verordnungen zu Energiesparlampen hinausgeht.

Wenn all diese Vorstöße auch aus unterschiedlichen Motiven erfolgen, sie verfolgen doch ein ähnliches Ziel: Europa muss für sich das Primat der Politik zurückfordern. Es ist diese These, die den Grünen Cohn-Bendit und den Liberalen Verhofstadt zusammenführt: Nationalstaaten allein können sich im Sog der Globalisierung nicht behaupten. Um Märkte heute noch ansatzweise zu bändigen, braucht es das Gewicht einer transnationalen Demokratie, die sich nicht im Gestrüpp nationaler Interessenskämpfe verheddert.

Klar, diese These wiederholt ein Jürgen Habermas in Variaten schon seit Jahren, zuletzt in seiner Schrift Zur Verfassung Europas. Habermas spricht von Europa stets als einem „politischem Projekt“. Das mag angenehm zurückhaltend klingen, doch impliziert das auch seine Ersetzbarkeit. Warum sollten die Europäer nicht einfach ein neues „Projekt“ starten, die Renationalisierung der Politik beispielsweise, wenn das bequemer scheint?

Der Beamte als Aufklärer

Dezidierter ist da schon Robert Menasse. Seine Landboten-Schrift ist Ausfluss wochenlanger Aufenthalte in Brüssel. Das Resultat ist verblüffenderweise ein Lob der Brüsseler Bürokratie, deren Protagonisten Menasse als Träger einer postnationalen Aufklärung beschreibt – kompetent ausgebildet, die Interessen Europas und nicht ihrer Herkunftsländer verfolgend. Anders als Hans Magnus Enzensberger, der in der Brüsseler Bürokratie den bevormundenden Hegemon erblickt, kann Menasse an der Normierungsarbeit der EU-Kommission nicht viel anrüchiges finden. Der Feind der Europäer seien nicht die Bürokraten, vielmehr die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten, die sich im Europäischen Rat treffen, um die nationalen Interessen der Einzelstaaten zu vertreten – und damit eine wirkliche transnationale Entwicklung behindern.

Hart kritisiert Menasse natürlich Angela Merkels Politik in der Eurokrise. Dabei steigert er sich in die These hinein, dass Merkel im Grunde nichts mit Europa anfangen könne, weil sie als junge Frau in der DDR die Idee der Völkerfreundschaft als Propagandalüge erfahren habe. Das mag übertrieben sein, verweist aber auf einen kaum beachteten Umstand: Die Erzählung von der EU als Friedensprojekt verfängt nicht nur in der neuen Generation nicht mehr. Vielmehr ist es auch eine geographische Grenze, an die sie stößt. Sicher, die Bedeutung der europäischen Einigung für die deutsch-französische Aussöhnung ist unbestreitbar. In Osteuropa allerdings hat die Idee Europas als Friedensstifter zurecht große Schwierigkeiten. War es nicht eher das Gleichgewicht der Kräfte zwischen Ost und West, der neue Kriege in Europa verhindert hat? In dieser Perspektive erweist sich auch der Drang Konrad Adenauers in die EU eher als Projekt zur Westbindung, denn als getrieben von einem Friedensideal. Es ist solche Vorsicht, die viele Linke immer noch gegen pathosgeschwängerte Appelle für eine Vereinigung Europas hegen: Dass die Idee nur vorgeschoben sei, um harte wirtschaftliche und militärische Interessen durchzusetzen.

Auch gegen solche Bedenken ziehen Cohn-Bendit und Verhofstadt ins Feld. Sie sind sich mit Menasse einig: Problematisch an der EU ist, dass dort vor allem nationale Interessen vertreten werden. Für Europa! schlägt daher die Abschaffung des Europäischen Rats vor, jenes Gremiums, in dem die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten selbst zunehmend über die Geschicke der EU bestimmen. An seine Stelle soll ein transnationaler Senat treten, zusammengesetzt aus Abgeordneten der nationalen Parlamente. Mit zwei parlamentarischen Kammern, so das Kalkül, wäre das Demokratiedefizit – immerhin das wichtigste Argument gegen eine Entwicklung der EU zu einem Bundesstaat neuen Typs – widerlegt. So gesehen kann man sich vom hohen Ton schon ein wenig verführen lassen.

Für Europa! Ein Manifest Daniel Cohn-Bendit & Guy Verhofstadt, Hanser 2012, 141 S., 8 €

Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas Robert Menasse , Zsolnay Verlag 2012, 112 S., 12,50 €

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