Die ungefähre Britishness

Toleranzidol In London verschärft sich die Debatte um kulturelle Identität

In den vergangenen Wochen verhaftete die Londoner Polizei 250 Mal vermeintliche Selbstmordattentäter und machte dabei siebenmal von der Schusswaffe Gebrauch (The Guardian). Angesichts dieser Zahlen ist es fast Glück zu nennen, dass nur ein Unschuldiger, der Brasilianer Jean Charles Menezes, von Polizeikugeln getötet wurde. Dieser schreckliche Vorfall trug dazu bei, dass die Stimmung in der Stadt weiter eskalierte: ein Radiomoderator forderte alle farbigen Mitbürger dazu auf, aus Sicherheitsgründen auf das Tragen von Rucksäcken in der "tube" zu verzichten. Und ein hilfloser Ticket-Verkäufer klebte in einer Nordlondoner U-Bahn Station ein selbstgemaltes Plakat an den Eingang. Darauf stand: Rennen sie bitte nicht die Rolltreppen hinunter!

Während es Tony Blairs Anliegen ist, im Zuge des öffentlichen Ausnahmezustands schärfere Sicherheitsgesetze durchzusetzen, so zum Beispiel die dreimonatige Inhaftierung Terrorverdächtiger ohne Anklage oder die Einführung von Personalausweisen, hat sich allerorten eine Identitätsdebatte entzündet. Was bedeutet es, im 21. Jahrhundert Brite zu sein, lautet die Frage, die alle großen englischen Zeitungen beschäftigt. "An diesem Wochenende sollten alle Briten - Liberale, Konservative, Gläubige und Ungläubige, Muslime und alle anderen - darüber nachdenken, was passiert ist und wie es weitergehen soll", forderte der Leitkommentar des Observer am Sonntag. Die Debatte ist naturgemäß unübersichtlich. Einig ist man sich nur darüber, dass große Unklarheit über den Gehalt der so genannten "Britishness" herrscht. Bis auf die British National Party ist allen Diskursteilnehmern klar, dass es keine Flucht zurück in eine übersichtliche Leitkultur geben kann. Für Will Hutton, Redakteur des Observer, liegt die Sache ganz einfach: Toleranz sei die DNA der Britishness heute. Wohl oder übel müssen sich wahrscheinlich sogar konservative Tories mit dieser Antwort zufrieden geben. Die Teekultur ist längst einer Cappuccinokultur gewichen; die besten Romane verfassen indisch-stämmige Engländer; und im Criquet besiegen die ehemaligen Kolonien das Kernland seit 50 Jahren in Folge. Das Problem bestehe aber darin, so Hutton, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der britischen Muslime mit dieser Toleranzidentität wenig anfangen könne und sich in eine Welt aus Ignoranz, Antisemitismus und Antiliberalismus flüchte. Die Zahlen einer Umfrage des Daily Telegraph bestätigen das: sechs Prozent der britischen Muslime fanden die Anschläge gerechtfertigt, weitere 24 Prozent hatten immerhin Verständnis für die Beweggründe der Täter. Trotz aller gebotenen Vorsicht vor einer solchen Umfrage verweist sie auf das Problem eines "naiven" Multikulturalismus. Muss Toleranz auch die Intoleranz gewisser religiöser Kreise tolerieren? Und wenn ja: wie lange?

Soll man, wie jüngst Londons Bürgermeister Ken Livingston, konservative Kleriker hofieren, die die Anschläge auf London zwar ablehnen, Selbstmordattentate in Israel dagegen als notwendige Akte im Freiheitskampf anpreisen? Die sich mit der Gegenwart von Homosexuellen in London irgendwie abfinden, ihre Steinigung in islamischen Ländern aber unterstützen?

Livingstons Versuch, den multikulturellen Konsens durch die Einbindung der einflussreichen konservativen islamischen Kräfte zu festigen, hat gerade auch auf jüdischer Seite zu einigen Irritationen geführt. Schadet er damit nicht den moderaten islamischen Kräften, fragt Jonathan Freedland im Guardian und übt im gleichen Atemzug eine Kritik an der unkritischen Haltung gerade vieler Linker in Bezug auf islamische Kräfte. Allerdings bietet auch Freedland keine gangbaren Lösungsvorschläge. Ratlosigkeit ist ein weiterer gemeinsamer diskursiver Nenner.

Einen ganz unterschiedlichen Standpunkt vertritt Paul Gilroy. Der Rassismusforscher sucht seine Erklärungen jenseits der Mainstream-Diskurse. Weder die Irak-Politik noch das Problem des religiösen Fundamentalismus stehen im Zentrum seiner Analyse. Gilroy bringt in einem Briefwechsel mit dem ehemaligen Vorsitzenden der nationalen Gleichstellungskommission, Herman Ouseley, die Begriffe "Rasse" und "Klasse" ins Spiel. Probleme wie die industrielle Verödung ganzer Landstriche in England und die damit einhergehenden sozialen, ökonomischen und politischen Probleme würden der Einfachheit halber in Religionsprobleme umgedichtet. Recycling der "cultural-clash"-Theorie nennt Gilroy das. Er fordert stattdessen eine offene Diskussion über die Wunden, die sich durch Kolonialismus und Rassismus tief in die Seelen der gesellschaftlichen Minderheiten eingefressen hätten und viele Muslime für religiösen Infantilismus anfällig machten: einige wenige junge Menschen aller Schichten und Herkünfte verfallen dem Sirenengesang des Fundamentalismus, weil er eine Antwort auf die Konsumkultur zu bieten scheint, von der sie sich ausgegrenzt fühlen, schreibt Paul Gilroy.

Bringt der Soziologe hier nicht zuviel Verständnis auf? Ist mit einer marxistischen Kritik beispielsweise der Antizionismus zu erklären, der einen Großteil der arabischen Welt und Diaspora eint und der von Predigern und Satellitenschüsseln nach London oder Berlin getragen wird? Zweifel sind angebracht. Von der Hand zu weisen ist Gilroys Verweis auf die Wunden rassistischer Praxis dennoch nicht: viele junge Muslime - Banker, Dozenten und Geschäftsinhaber - meldeten sich in den Radiodiskussionen auf BBC-London zu Wort und klagten über die gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber Muslimen.

Angesichts so vieler Fragen und so weniger Antworten hilft vielleicht eine Prise britischer Zukunftsoptimismus. Will Hutton formuliert den so: "Genug britische Muslime werden früher oder später der britischen Toleranzideologie beitreten, den Verlockungen des Jihad widerstehen und die Möchtegern-Mörder in ihrer Mitte marginalisieren. Vielleicht findet der radikale Islam in der britischen Toleranz seinen Widerpart; vielleicht erfährt er hier seine Demokratisierung." Das sind hehre Worte. Den Tätern auf die Spur ist die Polizei auch dank 4.000 Hinweisen vieler muslimischer Briten gekommen, wie Polizeichef Ian Blair besonders hervorhob.


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