Unsere Großväter waren keine Verbrecher". So machen Neonazis und Konservative seit Jahren gegen die Wehrmachtsausstellung mobil. Auch wenn die sich im Detail korrigieren musste - ihre Dokumentation der Verbrechen widerlegte die Empörten. Ein aufschlussreiches Buch mit dem Titel Opa war kein Nazi zeigt nun, dass der Mythos vom "sauberen" Großvater nicht nur in den Hirnen von Neu- und Altrechten herumspukt. Auch in ganz "normalen" Familien wird die Rolle der Tätergeneration aktiv umgedeutet. Eine Gruppe um den Essener Kulturwissenschaftler Harald Welzer hat in ihrem Forschungsprojekt "Tradierung von Geschichtsbewußtsein" vierzig deutsche Durchschnittsfamilien interviewt und untersucht, wie die NS-Geschichte "intergenerationell" tradiert wird. Sie kommen zu erstaunlichen Ergebnissen: die eigene Eltern- und Großelterngeneration wird pauschal vom Naziunrecht entlastet. Nazis, so liest es sich in den zitierten Gesprächspassagen, waren immer die anderen.
Die Autoren versuchen dieser Heroisierung der familiären Rolle im Nationalsozialismus auf die Spur zu kommen, die dazu führt, dass sich Mitläufer und Mittäter im Familienkreis in "stille Helden" verwandeln. Sie unterscheiden, nach Maurice Halbwachs, zwei Gedächtnisformen, in denen Geschichte erinnert wird: das kulturelle Gedächtnis wird durch gesellschaftliche Institutionen geformt und wird von Welzer als "Lexikon" bezeichnet; das kommunikative Gedächtnis hingegen bildet sich im Gespräch von etwa drei bis vier Generationen. Die Autoren bezeichnen es mit dem Begriff "Familienalbum". Es setzt sich aus privaten Erzählungen, Dokumenten und Fotos zusammen.
In Einzel- und Familiengesprächen, die für die von der Volkswagenstiftung finanzierte Studie mit 40 Familien geführt wurden, konzentrierten sich die Autoren auf die Konstruktion dieser deutschen "Familienalben". Eine der Haupttendenzen, die auf dem Weg der Lebensgeschichten durch die Generationen festzustellen ist, bezeichnen die Autoren mit dem Begriff der "kumulativen Heroisierung". Ein Beispiel: Die 91-jährige Frau Krug berichtet davon, wie sie in den Nachkriegstagen durch Tricks die Einquartierung befreiter Juden aus Bergen Belsen auf ihrem Hof verhindern konnte und spricht noch heute davon, daß "die Juden (S. S.) ganz widerlich warn". Ihr Sohn Bernd Hoffmann erinnert dagegen an die Geschichte einer benachbarten Bäuerin, von der gemunkelt wurde, dass sie Flüchtlinge aus dem nahengelegenen Konzentrationslager versteckt habe. Die 26-jährige Enkelin fügt im anschließenden Gespräch Teile beider Geschichten so zusammen, dass ihre Oma Elli Krug plötzlich als couragierte stille Heldin dasteht. Sie berichtet von einem geflohenen KZ-Häftling den die auf ihrem Hof versteckt gehalten habe: "Und es kamen halt auch Leute und haben den gesucht bei ihr auf´m Hof und sie hat da echt dicht gehalten, und das find ich, ist so ´ne kleine Tat, die ich ihr wohl echt total gut anrechne, so." Grundstruktur dieser schönfärberischen Variante der Erzählung ihrer Oma ist, so die Autoren, die familiäre Rahmung: ein generalisiertes Bild "der moralischen Wesensart", das den Erzählungen unterliegt: "Für die Familienmitglieder ist die prinzipielle Anforderung kennzeichnend, Kohärenz sichern, Identität bewahren und Loyalitätsverpflichtungen nachkommen zu müssen."
Gesprengt wird solch kohärente Erinnerungsgemeinschaft, wenn unwiderlegliche Fakten über Verbrechen eines Zeitzeugen auftauchen. Wie im Fall der Familie Meier: Nach dem Tod des geliebten Urgroßvaters taucht eine von ihm verfasste Chronik auf, die diesen als unverbesserlichen NS-Verbrecher ausweist. Eine sinnstiftende und für alle Familienmitglieder verbindliche Rahmung ist nun nicht mehr möglich. Bemerkenswert ist aber noch eine andere Tendenz: je größer, so die Autoren, das "lexikalische" Wissen um die nationalsozialistischen Verbrechen sei, desto erfindungsreicher umkurven die Erzähler die ambivalenten Punkte der Familienhistorie und konstruieren Geschichten, die die moralische Integrität der Eltern und Großeltern sichern.
Ein anderer Tradierungstyp, den die Autoren festgestellt haben, ist die "Opferkonstruktion". Er taucht in Geschichten auf, in denen das historische Opfer-Täterverhältnis einfach umgekehrt wird, indem bestimmte Erzähltopoi des jüdischen Leidens in deutsche Viten integriert werden. Die Autoren nennen das "Wechselrahmung". Mediale Vorlagen spielen dabei eine wichtige Rolle. Bekannte Bilder aus Holocaustfilmen und Literatur, wie Viehwaggons und Eisenbahnschienen, füllen nach Welzer, die oftmals sehr nebulös erzählten Leidensgeschichten der Tätergeneration. Für die medial sozialisierten Enkel gewinnen sie gerade dadurch eine besondere Plausibilität. Nebulös sind fast alle erzählten Geschichten. Für Kinder und Enkel bleibt daher genügend Raum, die Familienalben so zu modellieren, dass das moralisch integere Familienbild gewahrt bleibt.
Gibt es Unterschiede in der Erinnerungskultur in Ost-und Westdeutschland? Diese Frage beschäftigt die Autoren im Schlussteil des Buches. Hier hat offensichtlich die Totalitarismusdebatte ihre Wirkung entfaltet. Auffällig ist die Verquickung von NS- und DDR Geschichte in der ostdeutschen Zeitzeugengeneration, die konträr zum offiziösen antifaschistischen Geschichtsbild der DDR steht. Oftmals wird in den Gesprächen der Verweis auf die totalitären Erfahrungen in der DDR dazu benutzt, unliebsames Nachfragen zur Rolle im NS zu unterdrücken. "Aber wir haben ja letztlich auch nicht gewußt, was in Bautzen und anderen Gefängissen der DDR-Zeit passiert ist.", lautet eine Standardfloskel. Die 75-jährige Frau Stein bürstet die Nachfragen ihrer Enkelin folgendermaßen ab: "Ich meine, du warst ja dann, das ist bei Honecker ja genauso gewesen, FDJ und so. Oder als Pionier (spricht ihre Enklin direkt an) wie stolz hast du dein Pioniertuch getragen." Irgendwie, so der Tenor, ist man von beiden Systemen betrogen worden.
Sprach der Historiker Raul Hilberg einmal davon, daß der Holocaust in Deutschland Familiengeschichte sei, kommen Welzer und Co zu einem anderen, alarmierenden Ergebnis: in beiden deutschen Familiengedächtnissen scheint kein Platz für die Erinnerung an die Judenvernichtung zu sein. Eine beunruhigende These. Vor allem deshalb, weil die Autoren ausdrücklich feststellen, dass es an Aufklärung über den Nationalsozialismus nicht mangelt. Das "lexikalische" Wissen über den Holocaust sei vor allem in der Enkelgeneration sehr hoch. Dieses kognitive Wissen stehe aber, merkwürdig unverbunden, hinter den emotionalen, familiären Erinnerungen zurück.
Obwohl die interviewten 40 Familien dem deutschen Durchschnitt entsprechen sollen und isgesamt 2.500 erzählte Geschichten Eingang in die Untersuchungsergebnisse gefunden haben, scheint Kritik am aufschreckenden Fazit der Forscher programmiert. Mit einer repräsentativen Studie, die aktuell durchgeführt wird, wollen sie dieser Kritik entgegenwirken. Die Autoren sind sich aber sicher, dass die Ergebnisse ihrer jetzigen Studie bestätigt werden. Das für den Laien sehr gut lesbare Buch, fordert den Widerspruch aber geradezu heraus: zu geschmeidig fügen sich die Aussagen der Befragten ihrer Generalthese ein. An keiner Stelle werden abweichende, kritische Erinnerungsgemeinschaften aufgeführt, die es in Deutschland sicher gegeben hat. Wie sonst ließe sich die Popularität von nationalsozialistischen Themen im universitären Bereich oder Initiativen wie Aktion Sühnezeichen erklären? Verdienstvoll und lesenswert ist Opa war kein Nazi auf jeden Fall. Zu lange wurde die Familiengeschichte und deren Tradierung aus dem Forschungsfeld Nationalsozialismus ausgeklammert. Aus verständlichen aber keineswegs legitimen Gründen: dass auch die eigene Familie in die nationalsozialistische Schuld verstrickt ist, ist eine schmerzhafte Einsicht.
Harald Welzer, Sabine Moller, Karoline Tschuggnall: Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Unter Mitarbeit von Olaf Jensen und Torsten Koch. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002. 248 S., 10,90 EUR
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