Nicht erst seit der Diskussion um die Ausstrahlung des Geiselvideos der entführten Susanne Osthoff zeigt sich, dass die Schlüsselrolle des Fernsehens in Krisenzeiten kaum überschätzt werden kann. Wer die Wirkungsmacht dieses Mediums dieser Tage schon hat schwinden sehen, wurde bereits einige Wochen vorher belehrt: Als der jugendliche Mob in der Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois des Nachts loszog, um sich eine Straßenschlacht nach der anderen zu liefern, setzte in ganz Frankreich eine hitzige Debatte über die Notwendigkeit einer medialen Selbstzensur ein - aus Furcht, die sensationslüsterne Berichterstattung könne potenzielle Nachahmungstäter auf dumme Gedanken bringen.
Und tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Medien nicht gerade zur Deeskalation der Ausschreitungen beigetragen haben. Im Gegenteil, es ist anzunehmen, dass sich die Randalierer durch die anfänglichen Fernsehbilder eher bestätigt, ja nachgerade animiert sahen, immer neue Fahrzeuge in Flammen aufgehen zu lassen. Um einen Hitparaden-Effekt zu vermeiden, entschieden sich deshalb einige französische Radiostationen und TV-Sender dazu, keine genauen Zahlen verkohlter Autowracks mehr zu nennen. Schließlich wurden sogar die Schauplätze der Gewalt verschwiegen, um den territorialen Wettstreit zwischen den Bewohnern der Vorstadt-Ghettos nicht noch unnötig anzuheizen.
Zum ersten Mal schien es, als habe das Verantwortungsbewusstsein über das Kalkül der TV-Macher gesiegt. Andererseits rüttelt diese Methode der publizistischen Selbstzensur an den Grundfesten der Pressefreiheit. Was das Beispiel Frankreich aber grundsätzlich demonstriert, ist, dass das Fernsehen zu einem Hauptakteur auf der Bühne jeglichen sozialen und politischen Lebens geworden ist. Mehr denn je sorgt das Leitmedium in Krisensituationen heute für fragwürdige Multiplikationseffekte, die (wie beim französischen Ausnahmezustand) nicht nur auf die öffentliche Meinungsbildung in ganz Europa, sondern auch auf das politische Denken und Handeln bis hoch in die elitären Regierungsetagen einwirken.
Vor allem für den internationalen Terrorismus droht die Gefahr, dass das Fernsehen zum verlängerten Arm für kriminelle Botschaften wird. Daran ändert auch wenig, dass Bekennervideos unter Verschluss gehalten werden, wie es ARD-Chefredakteur Hartmann von der Tann im Fall der Osthoff-Entführung vorgezogen hat. Denn solche Entschlüsse haben im Nachrichtenjournalismus eher Seltenheitswert. Zu groß ist die Sensationsgier und der Konkurrenzkampf unter den privaten Wettbewerbern, die meistens frei nach dem Motto handeln: Wenn wir´s nicht als Erste in voller Länge bringen, dann tun es sowieso die anderen!
Ohnehin laufen die TV-Macher ständig Gefahr, strategische Fehler zu begehen. Moralisch gesehen zwar einwandfrei, sind solche Entscheidungen wie die von der Tanns jedoch immer eine professionelle Gratwanderung zwischen Selbstzensur und Terrorpropaganda. Etwaige Forderungen von Familienangehörigen, die Entführung - wie im Falle Osthoff - um jeden Preis publik zu machen und dadurch öffentlichen Druck auf die Bundesregierung ausüben zu wollen, sind aus Sicht der Betroffenen zwar durchaus nachvollziehbar. Für die Medien könnte aber genau dieser Wunsch zum Verhängnis werden: Macht sich das Fernsehen auf diese Weise nicht zum Gespielen der Entführer?
Ebenso heikel wie lehrreich war in dieser Hinsicht auch die Ausstrahlung des Entführungsvideos der Journalistin Giuliana Sgrena im staatlichen Fernsehen, nach der die italienische Öffentlichkeit im Februar 2005 auf die Barrikaden ging. Dadurch sah sich die Politik letztlich zum Handeln gezwungen und setzte alle diplomatischen Hebel in Bewegung. Die Geisel kam am Ende frei, allerdings (nach heutigem Kenntnisstand) gegen viel Lösegeld. Damit hatten zwar Entführer und Entführte, was sie wollten. Aber genau diese emotionalen Reaktionen haben die politische Erpressbarkeit demokratischer Systeme offenbart und vermutlich Nachahmungstäter auf den Plan gerufen.
Fest steht jedenfalls, dass wohl nur im Falle von Krisen die gesellschaftlichen Konsequenzen der Fernsehberichterstattung in diesem Maße spürbar sind - im Negativen wie im Positiven. Denn auch umgekehrt verdeutlichen beispielsweise die Berichte über die Tsunami-Katastrophe, dass das Fernsehen entgegen aller kulturpessimistischen Deutungen weitaus mehr sein kann als nur eine stumpfe Berieselungsmaschine: Durch eine mitunter von emotionalisierenden Eindrücken und personalisierten Schicksalgeschichten getragene Berichterstattung über die Krisenregionen trugen gerade die Massenmedien dazu bei, dass dem Tsunami nicht nur eine stumme Welle des Bedauerns folgte, sondern alleine in Deutschland an die 125 Millionen Euro gespendet wurden.
Gegenüber dieser rekordverdächtigen Summe nahm sich die Spendenbereitschaft der Bevölkerung nach dem Erdbeben in Pakistan merklich verhaltener aus, was laut einer aktuellen Studie des Instituts Media-Tenor in einem direkten kausalen Zusammenhang mit der geringeren Medienaufmerksamkeit zu sehen ist. Demnach wurden in Deutschland zehn Mal mehr Medienberichte über die Flutkatastrophe in Südostasien ausgestrahlt als über die Erdbebenregion - und für Kaschmir weniger als ein Zwanzigstel gespendet.
Ausgerechnet die Marx´sche Maxime, die Welt nicht nur verschieden zu interpretieren, sondern sie verändern zu wollen, wird für die Krisenjournalisten zum Lackmustest: Dürfen Radiomoderatoren einfach Schauplätze verschweigen, um Nachahmer fern zu halten? Sollten Chefredakteure die Bequemlichkeit ihrer Leser anmahnen und zu Spenden aufrufen? Müssen Fernsehverantwortliche zuerst mit dem Auswärtigen Amt sprechen, bevor sie ein Erpresservideo ausstrahlen? Welches Handeln wird also zur professionellen Ultima Ratio, wenn die Zeit drängt?
Was für das Gegenwartsfernsehen erschwerend hinzu kommt: Berichte und Kommentare sind bei Qualitätszeitungen für den Leser noch vergleichsweise leicht zu unterscheiden. Für Fernsehberichte ist das allerdings nicht immer eindeutig zu beantworten. Im Ereignis-Hype einer spontanen Krisensituation entfaltet das Live-Medium eine Dynamik, die gleich von mehreren Einflussfaktoren bestimmt ist: Von der Plötzlichkeit, mit der Krisen über Redaktionen hereinbrechen, und die oftmals professionelle Kurzschlusshandlungen nach sich zieht; vom Tempo der Krisenberichterstattung, das dem Aufmerksamkeitsmodus der Nachrichten geschuldet ist, als Erster und mit möglichst "exklusiven" Nachrichten auf Sendung sein zu müssen; vom Drang des Fernsehens zum Voyeurismus, der oftmals zu Bilderteppichen der Gewalt und des Grauens führt - und vom rasch aufkommende Desinteresse der Zuschauer, sobald nichts Neues mehr passiert oder kein frisches Bildmaterial mehr verfügbar ist.
Vor allem seit dem 11. September 2001 hat die Krisenberichterstattung eine neue Qualität erfahren, die sich im unverhältnismäßigen Aufkommen von Breaking News, den immer gewiefteren Medieninszenierungen auch von unerwarteten Live-Ereignissen und der ressortähnlichen Etablierung des Krisenjournalismus widerspiegelt. Es gebe inzwischen, so meinte kürzlich WDR-Intendant Fritz Pleitgen im Fachbaltt Funkkorrespondenz, sogar einige Kollegen aus der Branche, "die geradezu süchtig sind nach Krisen. Denn sie sehen, dass sich der Kampf um Marktanteile und Quoten gerade in Krisenzeiten besonders gut austragen lässt."
Trotz der um sich greifenden Boulevardisierung der Nachrichten muss dem Leitmedium Fernsehen allerdings auch zugestanden werden, dass es zur Orientierung und Krisenbewältigung beiträgt. Auch wenn die Berichterstattung über die Krisen, Konflikte und Katastrophen der vergangenen Monate anfangs eher Angst und Stress induziert haben mag, ging es gleichzeitig immer darum, in kürzester Zeit Hintergründe, Erklärungen und Interpretationen für die Zuschauer bereitzuhalten und so dem Vorgefallenen einen Sinn zu geben. Damit trägt das Fernsehen für einen Großteil der Bevölkerung dazu bei, Panik zu vermeiden und ihr ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln.
Weil Moderatoren, Experten und Korrespondenten über Krisen niemals nur nüchtern berichten, sondern immer auch erzählen, dramatisieren und menscheln, macht sich die Funktionslogik des Fernsehens also vor allem dort bemerkbar, wo es selbst an seine Kapazitätsgrenzen gerät. Denn sobald die Routinen der Berichterstattung aussetzen, ergreift das Fernsehen Verteidigungsmaßnahmen, indem es das Wirklichkeitsbedrohende verstehbar macht und signalisiert, dass es alles im Griff hat.
Dass Unerwartetes in irgendeiner Weise immer schon eingeplant wird, hängt natürlich mit der Funktionslogik des Nachrichtenwesens ganz allgemein zusammen. Die US-Medienwissenschaftlerin Patricia Mellencamp betont, dass diese Dialektik des Fernsehens darauf beruhe, den Zuschauern ständig suggerieren zu müssen, alles unter Kontrolle zu haben. Mit der Übersetzung des Ereignisses in Sondersendungen und Talkshows werde demonstriert, dass selbst solche erschütternden Ereignisse die Fernsehmacher nicht so schnell aus der Fassung bringen können.
Indem das Fernsehen die immer gleichen Bilderschleifen des Terrors zeigt, kann es - abseits der allseits befürchteten Abstumpfung ihrer Betrachter - außerdem eine wichtige Verarbeitungsfunktion erfüllen. Bei Wiederholungen geht es für die Zuschauer mithin um ein therapeutisches Ritual - indem das Fernsehen dem Publikum vermittelt, dass es im Moment des Zuschauens in Sicherheit ist. Diese Schutzfunktion wird verstärkt durch den niemals abreißenden 24-Stunden-Programmfluss: Oftmals hat das Publikum das Gefühl, dass, solange gesendet wird, die Welt noch intakt sein muss.
Nur selten bricht das Fernsehen aus diesem hermeneutischen Sicherheitszirkel aus. Umso genüsslicher wird in amerikanischen Journalistenkreisen die Anekdote eines Nachrichtensprechers aus Los Angeles kolportiert, der während des Erdbebens von 1987 in einer Live-Sendung unter seinem Moderationstisch Zuflucht suchte - aus Angst, ihm falle die Decke auf den Kopf. Für diese Reaktion, die auf die Zuschauer nur allzu menschlich wirkte (bei einigen allerdings Panik auslöste), hatten seine Kollegen nichts als Spott und Häme übrig.
Nach wie vor gilt die Maxime, dass das Fernsehen berichten muss. Zu diskutieren bleibt die Frage, nach welchen Leitlinien dies geschehen soll. Breaking-News-Laufbänder, ausgeklügelte Notfallszenarien für Live-Schalten und seitenlange Expertenlisten, um bei plötzlichen Krisen auf Zack zu sein, sind nur kosmetische Maßnahmen. Um die Zahl der handwerklichen Fehler in Krisensituationen zu reduzieren, bräuchte es verbindliche redaktionelle Richtlinien, wie sie beispielsweise die BBC aufgestellt hat.
www.bbc.co.uk/guidelines/editorialguidelines/edguide/war/
Stephan Alexander Weichert arbeitet am Institut für Medien- und Kommunikationspolitik mit Sitz in Berlin und Köln und promovierte mit einer Arbeit über den 11. September als Medienereignis.
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