Seit einem Monat protestieren in Argentinien fast täglich Zehntausende Piqueteros auf den Straßen, sie blockieren Autobahnen mit brennenden Reifen, plündern Geschäfte und organisieren Widerstand gegen die Regierung. Arbeitslose fordern Jobs, Rentner die Auszahlung ihrer oft monatelang ausstehenden Pensionen, Arbeiter ihren Lohn und die wenigen, die noch Rücklagen haben, den Zugriff auf ihre Sparkonten.
In den Medien des Landes firmiert der Protest zumeist als "spontan" oder "anarchistisch", es fehle der Opposition an Organisationsfähigkeit. Und tatsächlich: Die einst größte Gewerkschaft Lateinamerikas, die Confederación General del Trabajo (CGT), geht derzeit völlig unter. Offenbar hat der peronistische Gewerkschaftsdachverband zu lange
hverband zu lange die neoliberale Politik des peronistischen Präsidenten Carlos Menem geschultert und so die Basis verloren. Menem hatte in den neunziger Jahren nicht nur fast alle Staatsfirmen - vom profitablen Erdölkonzern über die Telefongesellschaft bis hin zu Eisenbahnlinien - verkauft, sondern darüber hinaus das einst für den Subkontinent vorbildliche Sozialsystem abgebaut. Während die CGT, in der lange Zeit fast jeder argentinische Arbeiter organisiert war, seither einen Mitgliederschwund erlebt (auf heute noch vier Millionen), wächst die Anhängerschaft der erst vor zehn Jahren gegründeten autonomen Konkurrenz, der Central de los Trabajadores Argentinos (CTA).Sollte Präsident Duhalde unter diesen Umständen die Hoffnung hegen, durch ein Beschwören peronistischer Werte so etwas wie ein nationales Überlebensgefühl auszulösen, dürften er herbe Enttäuschungen erleben. Patriotismus war während der neunziger Jahre, den Zeiten der nationalen Selbstentleibung, zur Schimäre verkommen, ihn ausgerechnet jetzt zu bemühen, dürfte die Wut vieler Argentinier zusätzlich anfachen. Peronismus ist ein Gefühl Die CTA organisiert Streiks, wo die CGT in ihren peronistischen Netzwerken verhakt ist. Sie sucht den Kontakt zu der inzwischen größten Gruppe der Protestierenden, den Arbeitslosen, während die CGT sich einzig ihren Mitglieder verpflichtet fühlt. Auch steht die CTA nicht im Geruch der Bestechlichkeit, während die Funktionäre des peronistischen Syndikalismus seit Jahren für ihre Konzilianz gegenüber der Regierungspolitik mit kleinen und großen Geschenken rechnen dürfen. Vor allem aber ist es die Realitätsferne, die der alten Gewerkschaft angelastet wird. So verglich etwa CGT-Generalsekretär Rodolfo Daer den einstigen Präsidenten Carlos Menem nach zehn Jahren neoliberaler Politik noch immer mit Che Guevara - beide seien "große Revolutionäre". Die fehlende Programmatik seines Verbandes war für Rodolfo Daer nie ein Problem, ebenso wenig die Partnerschaft mit Regierung und Unternehmerverbänden. "Der Peronismus", ließ er wissen, "ist ein Gefühl".Dieses "Gefühl einer nationalen Bewegung" geht zurück auf die vierziger Jahre. 1943 hatte der Mussolini-Anhänger und General Juan Domingo Perón zunächst mit einem Staatsstreich die Macht erlangt. Nachdem er die Arbeiterbewegung durch Lohnerhöhungen, Arbeitsschutz und Acht-Stunden-Tag auf seine Seite gebracht hatte, ließ er sich anschließend vom Volk bestätigen. Die 1946 in der Verfassung verankerten sozialen Rechte gingen weiter als in vielen europäischen Staaten, sie sollten den Arbeitern gerechte Löhne und mehr Sicherheit garantieren. Weil Perons "nationale Allianz" keine Konflikte kannte, musste die Gewerkschaft im Gegenzug auf das Streikrecht verzichten. Der strenge General und seine sozial engagierte Frau Evita waren die Galionsfiguren eines Nationalismus, der um die Vision des gemeinsamen Ziels nicht verlegen war.Peronismus heißt Ausverkauf Einige Jahre noch erlebte Argentinien Wohlstand und Wachstum. Als die Preise für die Exportgüter Rindfleisch und Getreide jedoch sanken und die für Erdöl, Industrieprodukte und andere Importware in die Höhe schnellten, brach das System zusammen. Zwischen den sechziger und achtziger Jahren dominierten Militärs die Politik des Landes, der peronistische Korporatismus sah sich fast vollständig zerschlagen, viele Gewerkschaftler und peronistische Politiker waren unter den 30.000 Verschwundenen und Ermordeten jener Zeit, die peronistische Justizialistische Partei (PJ) und die CGT konnten nur noch im Untergrund agieren. Doch als das Terrorregime des General Videla 1983 nach dem verlorenen Falkland-Krieg gegen Großbritannien abdanken musste, erlebte der Mythos Perón eine ungeahnte Auferstehung.Auch die Gewerkschaften waren wieder da, zwangen den zivilen Präsidenten Raúl Alfonsín durch fortwährende Streiks in die Knie und verschafften dem Peronisten Carlos Menem mit einer komfortablen Mehrheit die Präsidentschaft. Weil aber die nationale Konsenspolitik in Zeiten hoher Staatsverschuldung und fallender Exporteinnahmen nicht mehr zu finanzieren war, setzte der Populist Menem ein Sanierungspaket durch, wie es ohne die Patenschaft der Gewerkschaft undenkbar gewesen wäre. So beschleunigte die Politik der nationalen Einheit paradoxerweise den nationalen Ausverkauf. Ein nationalistischer Populist avancierte zum Mündel des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der internationalen Bankenwelt.Kein Wunder also, dass sich der Widerstand gegen die Politik der Regierung seither immer mehr von Parteien und traditionellen Gewerkschaften fern hält. Unorganisiert sind die Proteste deshalb aber noch lange nicht: Die sozialen Bewegungen bündeln sich in einer Vielzahl von Organisationen und Gruppen: Von der Union der beschäftigungslosen Arbeiter über die Unabhängige Rentnerbewegung bis zur Selbstorganisation der Straßenkinder. Mehr als drei Millionen Argentinier sind in über 100.000 Nichtregierungsorganisationen (NGO) aktiv. Zwar sammeln sich einige davon unter dem Dach der neuen Gewerkschaft CTA, die Mehrzahl jedoch agiert weiter unabhängig - offenbar bieten die Peronisten ein abschreckendes Bild dessen, was aus sozialen Bewegungen werden kann, wenn sie sich einem nationalen Gefühl unterwerfen.