Plötzlich war sie Sigmar Gabriels größte Stütze. Beim Parteikonvent der SPD am vergangenen Sonntag soll Hannelore Kraft mit auffälliger Leidenschaft für Koalitionsgespräche mit der Union geworben haben. Als wollte die Ministerpräsidentin aus Nordrhein-Westfalen durch besonderen Eifer vergessen machen, dass sie sich noch Tage zuvor als größte Skeptikerin aufgeführt hatte.
Wenn die Berichte aus dem Willy-Brandt-Haus stimmen, dann war es Kraft, die die politische Schizophrenie der SPD-Führung beim Konvent am deutlichsten zum Ausdruck brachte. Von ihr wird die Äußerung kolportiert, sie könne einer Friseurin im Osten, die für knapp fünf Euro die Stunde arbeite, nicht erklären, weshalb sie den Mindestlohn vo
estlohn von 8,50 Euro nicht durchsetze, wenn die Chance dazu besteht.Putzige Innenwelt der SPDEs ist kein führender SPD-Politiker bekannt, der die „Hoffnungsträgerin“ auf die Mehrheitsverhältnisse im neuen Bundestag hingewiesen hätte. Dort sitzen seit diesem Dienstag 320 Abgeordnete von SPD, Grünen und Linken, die ausnahmslos im Wahlkampf für den gesetzlichen Mindestlohn plädierten. Und 311 von CDU und CSU, die diesen Mindestlohn durch einen „Flickenteppich“ (Peer Steinbrück) aus Regional- und Branchenvereinbarungen ersetzen wollen. Ginge es also wirklich um die Durchsetzung des sozialdemokratischen Symbolthemas Mindestlohn, dann müsste die SPD nur dem Antrag der Linken folgen, ihn zu beschließen.Es geht also um etwas anderes. Es geht um das, was man in Deutschland unter „stabil“ versteht: eine Regierung mit 80 Prozent der Parlamentssitze im Rücken und einem Koalitionsvertrag, der die beteiligten Parteien für vier Jahre einmauern soll. Um die demokratisch gewählte Mehrheit für wichtige sozialdemokratische und linke Projekte geht es nicht. Auch nicht für die SPD, die lieber einer Angela Merkel die Mehrheit sichert, als ein Experiment zur Durchsetzung ihrer Ziele zu wagen – sei es Rot-Rot-Grün, sei es der Versuch, Merkel in eine Minderheitsregierung zu zwingen, oder sei es notfalls der Gang in eine neue Wahl.Es ist schon erstaunlich, welche Rolle ausgerechnet Hannelore Kraft auf dem Weg in die schwarz-roten Koalitionsverhandlungen spielte. Ihre Wende von der Gegnerin zur leidenschaftlichen Befürworterin des Bündnisses wurde uns als Seifenoper präsentiert. Aber in Wahrheit folgt sie dem Drehbuch, das die derzeit Mächtigen in der SPD geschrieben haben.Schmierenstück mit Kraft und DobrindtAn der Seifenoper „Frau Kraft wird erst laut und dann vernünftig“ kam kein Fernsehzuschauer, kein Zeitungsleser so leicht vorbei. Ihr Inhalt: Die beliebteste Politikerin einer nicht allzu beliebten Partei, Schutzpatronin der Basis, mächtige Kritikerin des Anbiederungskurses an die Konservativen, hat sich mit Alexander Dobrindt gestritten. Gestritten! Mit Alexander Dobrindt! Dem von der CSU! Ja, gebrüllt haben sie! Das hat jeder einzelne Korrespondent weltexklusiv per SMS aus den geheimen Sondierungen erfahren. Und dann, drei Tage später, haben sich die beiden – Geigenmusik! – auf dem Balkon der Parlamentarischen Gesellschaft versöhnt. Wer, bitte, waren Romeo und Julia? Die Geschichte der Balkonszenen muss neu geschrieben werden.Die politische Botschaft hinter dem Schmierenstück war die folgende: Mit Frau Kraft sei zunächst die Basisnähe durchgegangen beziehungsweise die Überlegung, dass sie mit Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen Probleme bekommen könnte, wenn sie im Bundesrat schwarz-rote Politik vertreten soll. Beides – die Basisnähe und die Berücksichtigung der eigenen landespolitischen Interessen – galt und gilt der Mehrheit in Politik und Medien offenbar als Synonym für Unvernunft.Für den Spiegel war Kraft schlicht zur „Querulantin“ geworden, bevor sie mit ihrem Ja zur Großen Koalition zur alten „Berechenbarkeit“ zurückgefunden hatte. In der Zeit erschien schon am Tag des entscheidenden Sondierungsgesprächs zwischen CDU/CSU und SPD ein Text, der jede Skepsis ins Reich des Irrationalen verwies: Die Heimat des Festhaltens an eigenen Zielen sei jene putzige „Innenwelt der SPD, der Ursprungsort falscher Erzählungen“.Unangenehme StörungUnd wiederum nach der Sondierung war es die FAZ, die erläuterte, warum Hannelore Kraft die Kreise so unangenehm gestört hatte, bevor sie sich am vergangenen Donnerstag ergab: „Für die Berliner Parteiführung war es … extrem wichtig, Ruhe zu bewahren und die Basis behutsam auf das vorzubereiten, was nun kommen würde. Und da waren die Wortmeldungen aus Düsseldorf, gelinde gesagt, nicht hilfreich.“Die „Berliner Parteiführung“, das sind vor allem Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier. So sehr sie sich in Habitus und inhaltlicher Ausrichtung unterscheiden – der immer unter Dampf stehende Vorsitzende mit gewissen Tendenzen zur Öffnung nach links, der spröde Fraktionschef als überzeugter Großkoalitionär –, so einig waren sie sich nach der Wahl, die Partei in diese Koalition zu zwingen. Steinmeier wollte das ohnehin, bei Gabriel ist es komplizierter, und es muss nicht einmal persönlicher Ehrgeiz sein, was ihn zur Vizekanzlerschaft treibt.Der Vorsitzende mag selbst an das glauben, was er sagt: dass die „staatspolitische Verantwortung“ es schlicht gebiete, diesen Weg zu wählen. Er mag sicher sein, dass das Risiko einer Neuwahl für die SPD noch größer wäre als die Kollateralschäden einer Großen Koalition. Er mag von der Erkenntnis getrieben sein, dass Rot-Rot-Grün kaum funktionieren kann, wenn man es vier Jahre lang versäumt hat, sich selbst und die Öffentlichkeit darauf vorzubereiten. Er mag sich aufrichtig beruhigen mit den sozialdemokratischen Programmpunkten, die sich womöglich gegen die Union durchsetzen lassen. Und im besten Fall mag er spekulieren auf eine Dynamik des Zerwürfnisses, die in zwei Jahren die Große Koalition zum Platzen und ihn mit Rot-Rot-Grün ins Kanzleramt bringt.Trotz Niederlage den Sieg gefeiertWie auch immer: Als Hannelore Kraft noch gegen Schwarz-Rot agitierte, hatte sich Gabriel längst mit seinem potenziellen Widersacher Steinmeier auf die Große Koalition verständigt. Das war die mächtige Mauer, an der Kraft sich die Nase einschlug. Ganz offensichtlich hatte sie die Machtverhältnisse an der Spitze der Partei falsch eingeschätzt. Und vielleicht hing sie zu lange an der Idee, die noch kurz vor der Wahl kolportiert worden war: Gabriel nach einem mauen Ergebnis von der Spitze vertreiben zu können, möglichst in einer konzertierten Aktion mit dem Hamburger Olaf Scholz.Nun hat die Senkrechtstarterin, beliebt nicht zuletzt wegen ihrer Entfernung zum Berliner Betrieb, diesen Betrieb im Crashkurs kennengelernt. Und wie viele vor ihr hat sie die Niederlage als Sieg verkauft: Die Sondierung habe nun doch sehr schöne „Grundpfeiler“ gelegt: „Der Politikwechsel wird konkret.“Es klang ein bisschen so, als habe Angela Merkel nach dem Streit zwischen Kraft und Dobrindt weinend zum Stift gegriffen, um das SPD-Wahlprogramm als Koalitionsvertrag zu unterschreiben. Und es klang so, wie Gabriel seit vier Wochen klingt. Alles normal in der SPD, schrecklich normal.
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