Angesichts der wachsenden Unruhe in der Partei stellt sich die Frage: Was treibt eigentlich die Kanzlerin? Zum einen macht sie sich mit ihrer asylfreundlichen Rhetorik unbeliebt – jedenfalls bei den Ängstlichen, die sich vor Veränderungen fürchten, bei den Hysterischen und den Fremdenfeinden. Andererseits trübt sie auf diese Weise den Blick ihrer politischen Gegner, die sich in Ergebenheitsadressen ergehen, so wie Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow: „Die Bundeskanzlerin geht einen schweren Weg, aber sie geht einen geraden Weg zur Verteidigung unseres Sozial- und Rechtsstaates.“ Zugleich hat die Große Koalition das Asylrecht weiter eingeschränkt, unter anderem durch die Erweiterung der „sicheren Herkunftsländer“ und Einschränkungen der Bargeld-Leistungen. Dass die Kanzlerin im Rekordtempo auf den Unsinn mit den „Transitzonen“ eingeschwenkt ist, stört offenbar niemanden mehr. Opposition von links? Fehlanzeige. Opposition, das sind im Moment Angstverstärker von rechts und ihre medialen Begleiter: „Deutschland wankt unter dem Flüchtlingsansturm“, schreibt Focus. Natürlich war es die Bild-Zeitung, die auf den Punkt brachte, dass es nun immer weniger um die Opfer von Krieg und Vertreibung gehen würde als um das Schicksal der Kanzlerin: „Die Flüchtlingskrise wird zur Schlacht um Angela Merkels Zukunft“. Die Regierungschefin, so scheint es, befindet sich in jener Transitzone, hinter der der Abstieg vom Olymp beginnt. Merkel-Dämmerung!
Ist das wirklich der Anfang vom Ende? Scheitert Angela Merkel, und wenn ja, wie? Oder kommt sie auch aus dieser Krise stärker heraus, als sie hineingegangen ist? Hier sind fünf mögliche Szenarien.
1 Konstruktives Misstrauensvotum
Im Bundestag existiert, daran ist der Vollständigkeit halber zu erinnern, rechnerisch eine rot-rot-grüne Mehrheit. Das heißt, es bestünde die Möglichkeit, die CDU-Kanzlerin durch einen SPD-Kanzler zu ersetzen. Dazu müsste nach Artikel 67 des Grundgesetzes ein Misstrauensvotum abgehalten werden – das immer mit der Neuwahl eines Kandidaten verknüpft sein muss. Das scheint momentan in etwa so wahrscheinlich wie der Einzug von Sahra Wagenknecht ins Bundespräsidialamt. Zumal die SPD – allen voran Parteichef Sigmar Gabriel und Fraktionsvorsitzender Thomas Oppermann – sich nicht sicher ist, ob sie lieber den Abschottungs-Ideen der CSU folgen soll. Nicht selten sind die Äußerungen Gabriels und Oppermanns von denen Horst Seehofers kaum zu unterscheiden.
Allerdings: Auch wenn es eine rechnerische linke Mehrheit im Bundestag gibt – ist schon eine Wechselstimmung Richtung Rot-Rot-Grün in der Gesellschaft in Sicht? Eher nicht, denn SPD, Linkspartei und Grüne haben es versäumt, einen solchen Umbruch vorzubereiten.
2 Merkel gibt auf
Die Kanzlerin könnte zu dem Schluss kommen, dass sie sich zehn Jahre nach Übernahme ihres Amtes zu weit von ihrer Partei entfernt hat. „Dann ist das nicht mehr mein Amt“, könnte die Formel lauten. Dann würde Merkel verkünden, dass sie ihre Aufgabe nun in andere, frische Hände legt. Nur welche wären das? Die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen kann mit gefakter Doktorarbeit kaum Kanzlerin werden. Das gleiche gilt für Innenminister Thomas de Maizière – seine Ambitionen haben Asylbewerber und Flüchtlinge unter sich begraben. Zwar ist ein solches Szenario angesichts der fortschfreitenden politischen Erosion an der Basis nicht gänzlich auszuschließen. Es erscheint aber schon deshalb unwahrscheinlich, weil damit in der Öffentlichkeit der Eindruck entstünde, dass die lange Kanzlerschaft Merkels und der CDU auf einem Tief- statt auf einem Höhepunkt endet. Mit der CDU wird das wohl kaum zu machen sein.
3 Merkel stellt die Vertrauensfrage
Diese Möglichkeit ist gar nicht unwahrscheinlich. Jedenfalls, wenn der Vertrauensverlust der Kanzlerin in ihrer eigenen Partei so weitergeht. Angela Merkel müsste dann nach Artikel 68 Grundgesetz im Bundestag die Vertrauensfrage stellen. Das hätte drei mögliche Folgen:
a) Sie verliert, obwohl sie nicht verlieren will. Das wäre eine echte Sensation – und ist so gut wie ausgeschlossen. Gäbe es eine Mehrheit in der CDU gegen Merkel, dann fände der Sturz wohl eher auf einem Bundesparteitag statt (oder die CDU-Chefin käme ihm, was wahrscheinlicher wäre, mit einem Rücktritt zuvor). Dass die SPD die Vertrauensfrage geschlossen nutzen würde, um Merkels Kanzlerschaft mit rot-rot-grüner Mehrheit ein Ende zu setzen, scheint nicht wahnsinnig wahrscheinlich. Aber, wer weiß! Klaus Wowereit hat in Berlin einmal vorgeführt, wie man mit rot-grünen und rot-gelb-grünen Etappen sowie erzwungenen Not- und Denkpausen letztlich zu einer rot-roten Regierung kommen kann.
b) Sie gewinnt.
c) Sie verliert, weil sie verlieren will. Das wäre der Weg zu Neuwahlen. Ihn würde sie aber (wie Gerhard Schröder 2005) eher nach den Wahlen im Frühjahr (Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt) gehen, wenn die CDU dort hohe Verluste zu verzeichnen hätte. Dass die AfD nach Neuwahlen womöglich in den Bundestag käme, kann Merkel egal sein. Sie hat ja die die immertreue SPD, oder, falls es rechnerisch reichen sollte, die Grünen.
4 Merkel bleibt im Amt und stellt sich der Zuwanderung
Das würde bedeuten, nicht nur rhetorisch als Beschützerin aller Heimatlosen aufzutreten, sondern nationale, europäische und internationale Strategien zu entwickeln und der Gesellschaft zu vermitteln, mit denen sich die Aufgabe meistern ließe, ohne das Asylrecht ständig einzuschränken. Dass das mit einiger Anstrengung möglich wäre, geht in der Hysterie des Augenblicks leider unter. Und dass die Kanzlerin hier Konsequenz an den Tag legen möchte, ist – siehe fünftens – nicht zu erwarten.
5 Merkel bleibt im Amt und bei ihrer Linie
Linie? Es handelt sich eher um eine Mixtur aus freundlicher Rhetorik, verbunden mit womöglich sogar überzeugtem Festhalten am Asylrechts-Artikel im Grundgesetz und Zugeständnissen an die Hardliner-Fraktion. Hinzu kommt der im Prinzip richtige Ansatz, die europäische Flüchtlingspolitik besser zu koordinieren und mit Herkunfts- wie Transitländern zu kooperieren. Wobei die Praxis – siehe Türkei – eher nach fragwürdigem Kuhhandel zwecks Abschottung aussieht. Genau so sieht das wahrscheinlichste Szenario für die kommenden Monate aus. Merkel dürfte weiter versuchen, links von der Union ein bisschen zu punkten und zugleich mit Elementen aus dem Hardliner-Handbuch nach rechts zu winken. Die offene Hetze von ganz rechts gegen Flüchtlinge, so hofft sie wohl, wird in der Winterkälte ebenso nachlassen wie die akute Zuwanderung. Das Kalkül dürfte langfristig trügen, aber für Merkel als Durchhalte-Kanzlerin könnte es vorerst reichen.
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