Ich sehe nicht, was ich nicht sehe

Vor der Sommerpause In diesem Regierungsjahr hat Angela Merkel immer wieder versucht, die Verfassung zu ignorieren. So sehr wie noch kein Regierungschef vor ihr
Auch den US-Präsidenten wollte die Kanzlerin nicht erhören, als der energische Schritt gegen die EU-Finanzkrise forderte
Auch den US-Präsidenten wollte die Kanzlerin nicht erhören, als der energische Schritt gegen die EU-Finanzkrise forderte

Foto: Johannes Eisele / AFP-Getty Images

Wenn Wolfgang Schäuble Europa erklärt, dann geht das so: „Europa“, sagte der Bundesfinanzminister gerade dem Spiegel, „hat schon immer nach zwei Prinzipien funktioniert: Was am Anfang nicht möglich ist, kommt mit der Zeit. Und was nicht klappt, wird nach und nach korrigiert.“

Der Minister hat seine Worte so gewählt, dass mit den Verantwortlichen auch die Verantwortung zu verschwinden scheint: Wie durch höhere Mächte verursacht, sind Dinge erst „nicht möglich“, „kommen“ aber irgendwann und offenbar von selbst. Die Entwicklung kontinentaler Politik „klappt“ erst nicht, aber das „wird“ irgendwann – von wem? – „korrigiert“. Schäuble, der Superloyale, tut Angela Merkel damit einen großen Gefallen. Hinter Allgemeinplätzen und Passivkonstruktionen lässt er ihre Verantwortung verschwinden. Und damit zwei entscheidende Fragen. Wie regiert unsere Bundeskanzlerin, vor allem dann, wenn es um Europa geht? Und: Von wem wird sie eigentlich regiert?

Die letzten Monate haben darauf ein paar Antworten gegeben. Angela Merkel arbeitet wie ein Automechaniker, der erst den Motor ausbaut und dann tankt. Später überlegt sie an jeder Kreuzung von Neuem, wohin sie fahren will. Und: Regiert wird Angela Merkel von „den Märkten“. Es sei denn, dass entweder die Opposition, das Bundesverfassungsgericht oder François Hollande sie mal dabei stören.

Man kann das als reaktionsschnelles Krisenmanagement loben oder als orientierungsloses Handeln tadeln. Vor allem aber muss man es als das benennen, was es ist: eine gelebte Abhängigkeit vom Diktat der Finanzökonomie, die nur mühsam und in Teilen durch die wichtigsten Gegenkräfte in Politik und Justiz korrigiert wird.

Rom am Freitag vergangener Woche. Noch sieben Tage, dann werden Bundestag und Bundesrat den Europäischen Stabilitätsmechanismus und den Fiskalpakt verabschieden. Angela Merkel steht auf einem römischen Hügel, gemeinsam mit dem französischen Präsidenten, dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Monti und dessen spanischem Amtskollegen Mariano Rajoy. Die Kanzlerin verkündet ein „Signal“: Die Viererbande der stärksten Euro-Länder schlägt eine Art Konjunkturprogramm im Umfang von 130 Milliarden Euro vor. Also ziemlich genau das, was die Kanzlerin der Spardiktate jahrelang für Teufelszeug erklärte, wenn es nicht gerade, im akuten Krisenfall, um deutsche Abwrackprämien und Kurzarbeiter-Hilfen ging. In aller Ruhe tut Merkel nun das, was ihrer Ideologie widerspricht, „die Märkte“ durch brachiales Ausbluten verschuldeter Staaten zu beruhigen.

Sie ist eine Mechanikerin

In Wahrheit sind die 130 Milliarden nichts als eine Pfütze Treibstoff, die die Mechanikerin Merkel der Konjunktur gewährt. Nur leider viel zu spät. Denn die Konjunktur ist weg und die Handlungsfähigkeit der EU-Südländer, also der Motor für einen nachhaltigen Wiederaufschwung, durch die aufgezwungene Sparpolitik so gut wie zerstört. Was aber trieb sie zu diesem 130-Milliarden-Paket? Überzeugung eher nicht, sondern François Hollande. Erst als die Kanzlerin wusste, dass sie dem französischen Wahlsieger entgegenkommen muss, hat sie sich einen späten, zu späten Schritt in Richtung konjunkturbewusster Krisenpolitik bewegt.

Immer noch Rom, immer noch Freitag, der 22. Juni 2012. Angela Merkel hat noch etwas zu verkünden: „Ich freue mich auch, dass alle vier heute sagen können, wir unterstützen die Einführung einer Finanztransaktionssteuer.“ Das klingt so, als habe sie persönlich „Attac“ gegründet, um sich den Lebenstraum von der Besteuerung der Börsengeschäfte zu erfüllen.

Brav titelt die Nachrichtenagentur dpa: „Vierergipfel für Finanztransaktionssteuer“. Fast nirgends ist davon die Rede, dass Merkel die, obwohl sie sie vor der Krise für Teufelszeug hielt, seit nunmehr drei Jahren verspricht. Kaum jemand weist darauf hin, dass die deutsche Regierungschefin vor allem aus Rücksicht auf den Koalitionspartner FDP bisher praktisch nichts dafür getan hat.

„Kommt mit der Zeit“, wie Wolfgang Schäuble sagen würde. Wir müssen nur abwarten. Und wissen dabei: Zu diesem Bekenntnis wurde die Kanzlerin von der SPD und den Grünen gezwungen. Sie bekam dafür die Zustimmung für das, was ihr wirklich wichtig ist: den neuen Rettungsschirm ESM, ohne den „die Märkte“ mal wieder zu implodieren drohen. Und den Fiskalpakt, mit dem sie ihre Austeritäts-Ideologie fast allen Europäern zur Pflicht gemacht hat. Diesmal also setzte sich weniger der neue französische Präsident durch als viel mehr die deutsche Opposition.

Von Hollande unterscheidet die sich allerdings dadurch, dass sie wesentlich billiger zu haben ist. Ihre für Europas Zukunft noch viel wichtigere Forderung – den Einstieg in gemeinsame Verantwortung zumindest für die alten Schulden der EU-Mitglieder – haben SPD und Grüne sang- und klanglos aufgegeben. Wenig ist von ihrem Anspruch geblieben, für eine wirkliche Alternative und ein solidarisches Europa zu stehen. Es war Hollande, der – wiederum in Rom – Merkels Gesichtszüge einfrieren ließ, als er keinen Zweifel daran ließ, dass er auf einer gemeinsamen Schuldentilgung – und damit auch gemeinsamen Anleihen der Euro-Staaten – bestehen werde.

Dass die Grünen und die Sozialdemokraten überhaupt etwas erreichten, wenn auch nur das soundsovielte Lippenbekenntnis zur Finanztransaktionssteuer, kam bekanntlich daher, dass Angela Merkel für den ESM und den Fiskalpakt eine Zweidrittelmehrheit benötigt. Wenn ihr einfache Mehrheiten genügen, bleibt der Opposition oft nicht mehr, als jene dritte Kraft anzurufen: das Bundesverfassungsgericht.

Los Cabos, Mexiko, 19. Juni 2012: Am streng bewachten Pazifikstrand hört die Kanzlerin vom jüngsten Urteil aus Karlsruhe. Wieder eine schwere Rüge für die Regierung: Das Parlament wurde, diesmal beim Europäischen Stabilitätsmechanismus, verfassungswidrig ignoriert und unzureichend informiert. Wer sich für den Wesenskern der Demokratie aus Überzeugung interessiert, kann diesen Richterspruch nur als Demütigung der Regierungschefin empfinden. Angela Merkel aber redet, als habe ihr ein Dorfgericht gerade das Heckenschneiden verboten: „Was das Urteil anbelangt, so werden wir das umsetzen.“ Und als hätte Karlsruhe nicht etwa an eine verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit erinnert, sondern das Parlament soeben erfunden, fügt sie hinzu: Es sei doch zu begrüßen, dass es jetzt „klare Maßstäbe“ gebe.

Für ein Land, das mit dieser Chuzpe regiert wird, ist so ein Bundesverfassungsgericht ein Segen. Im Notfall regiert es die Regierung, um das Schlimmste zu verhindern. Aber beruhigen kann uns das nicht. Denn Schwarz-Gelb spielt mit der Verfassung, indem sie das höchste Gericht inzwischen regelmäßig – man kann schon sagen systematisch – zum Eingreifen zwingt.

Wer das nicht glaubt, muss sich erinnern: Es war seit September 2011 bereits das dritte Mal, dass die Regierung an die Rechte des Parlaments erinnert werden musste, das zweite Mal seit Jahresbeginn. Beim ersten Mal ging es um die Beteiligung des Haushaltsausschusses bei der Freigabe von Geld für Rettungspakete. Dann, im Februar 2012, verwarfen die Richter das geheime Küchenkabinett namens „Neunergremium“, das die Regierung im eiligen Falle an die Stelle von Ausschuss und Parlament setzen wollte. Und nun zuletzt die offenbar notwendige Erinnerung daran, dass die Parlamentarier auch Informationen benötigen, bevor sie entscheiden können.

Jedes Mal tat Angela Merkel so, als sei es selbstverständlich, dass beinahe jede wichtige Entscheidung zum Euro demokratische Rechte verletzt und daher nachträglich korrigiert werden muss. Setzt sie darauf, dass dieser Skandal sich mit der Zeit abnutzt?

Erst handeln, dann denken

Wolfgang Schäuble hat diese Vermutung nun kaum verhohlen bestätigt. Er nannte die wichtigsten Elemente einer engeren politischen Union in der EU und fügte dann hinzu: „Wenn die Dinge, die ich eben skizziert habe, wirklich alle umgesetzt würden und man dann zu dem Schluss kommt, dass die Grenzen des Grundgesetzes erreicht sind, dann sagt das Verfassungsgericht zu Recht: Man kann gern mehr Rechte nach Brüssel übertragen, aber darüber muss das deutsche Volk entscheiden.“

Wohlgemerkt: erst „umsetzen“ und dann überlegen, ob „die Grenzen des Grundgesetzes erreicht sind“! So wird jener zynische Umgang mit der Verfassung auf das Großthema, das uns nun weiter beschäftigen wird, übertragen: Die Währungsunion zwingt uns, immer mehr politische Kompetenzen an Europa abzugeben. Aber auch dabei wird die schwarz-gelbe Regierung ihrem Motto treu bleiben: die Verfassung biegen, bis sie bricht. Und dann sehen wir weiter.

Deshalb müssen die Vorgänge um die Verabschiedung des Europäischen Stabilitätsmechanimus und des Fiskalpaktes durchaus als Warnzeichen verstanden werden. Einen Bundespräsidenten, von dem man noch nicht sagen kann, wie standhaft er sich gegenüber der Kanzlerin verhalten wird, öffentlich zu bitten, mit seiner Unterschrift unter die Gesetze noch zu warten – das war schon ein wohl überlegter Alarmruf des Bundesverfassungsgerichts , nicht nur an das Staatsoberhaupt, sondern vor allem an Merkels Regierung.

Erst recht, da die Debatte sich nun mehr und mehr um die demokratisch kontrollierten Kompetenzen der Nationalstaaten drehen wird. Um den Kernbestand des „alten Europa“ also. Daran ist eigentlich nichts auszusetzen. Denn die gemeinsame Währung ist allein durch eine nach deutschem Muster entworfene Zentralbank auf Dauer nicht zu steuern, und Kompetenzen (nicht nur) in der Haushalts- und Wirtschaftspolitik werden nach Brüssel abgegeben werden müssen. Damit stellt sich die Frage der parlamentarischen Kontrolle auf europäischer Ebene neu. Aber: All das haben andere schon angemerkt, als Schäuble und Co. noch davon träumten, Europa nach ihrem Berliner Muster zu formen.

Aber auch hier, wie schon bei Konjunkturpaket und Finanztransaktionssteuer, sei die Frage erlaubt: Dürfen wir unserer Regierung zu einer späten, aber richtigen Einsicht gratulieren? Nein, sicher nicht. Denn von einer europäischen Besteuerung auf Vermögen oder Unternehmensgewinne hat Schäuble nichts gesagt, und schon gar nichts von einer Sozialunion, die die Mindeststandards der Daseinsvorsorge vor dem Diktat der Fiskalpolitik bewahren könnte. Im Gegenteil: Den Haushalt durch Sozialabbau zu konsolidieren, dieses Recht lässt sich ein deutscher CDU-Minister nicht so schnell nehmen.

Angela Merkel selbst hat klargemacht, von wem sie regiert wird. Da war sie gerade an Mexikos Pazifikküste und sinnierte über die politische Union: „Die Märkte erwarten, dass wir zusammenrücken.“

Stephan Hebel ist Autor der Frankfurter Rundschau und schrieb im Freitag zuletzt über die grüne Landesregierung in Baden-Württemberg

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