So geht die aufgeregte Version in etwa: Da einigen sich die Politiker endlich auf eine Koalition, die nach fast einem halben Jahr der Führungslosigkeit das Land wieder mit einer „stabilen Regierung“ versorgen wird – vorausgesetzt, die bösen Jusos machen bei der SPD-Mitgliederbefragung nicht alles kaputt. Und was folgt auf die Einigung der zwei immer noch sogenannten Volksparteien? Chaos! In der SPD sowieso, aber auch bei den Christdemokraten melden sich die Kritiker. Durch viele Medien geistert wieder das düstere Wort von der „Merkeldämmerung“, und Begriffe wie „Neuwahl“ oder „Minderheitsregierung“ werden meist nur als Synonyme für den Weltuntergang verwendet.
Nun ist es nicht so, dass es in Deutschland keinen Grund gäbe, sich Sorgen zu machen. Aber so, wie sie derzeit läuft, geht die Debatte an den realen Problemen des Landes – Armut mitten im Reichtum, Klimawandel, rückständige Infrastruktur, Wohnungsknappheit, Enttabuisierung rassistischen Denkens, Erosion des hergebrachten Parteiensystems – weit vorbei. Von den Kriegen und Krisen der Welt, dem internationalen Terrorismus, der humanitären Katastrophe von Flucht und Vertreibung ganz zu schweigen.
Es war von Anfang an ein Markenzeichen des Merkelismus, dass sie den Deutschen versprach, ihnen all diese Krisen und Risiken vom Hals zu halten. Wenn die CDU-Vorsitzende ihrer Partei eine gewisse Modernisierung zumutete oder gar soziale Zugeständnisse an die SPD – Mindestlohn, Familienpolitik, Wehrpflicht, Atomkraft –, dann entsprang dies den Notwendigkeiten der Mehrheitsgewinnung zwecks Machterhalt oder Anpassung des Unionsprofils an ohnehin vorhandene gesellschaftliche Veränderungen. Aber der ideologische Kern blieb immer unangetastet.
Wo es um steuerliche Umverteilung geht, um ehrgeizige soziale Standards für Europa, um einen echten Ausgleich ökonomischer Ungleichgewichte in der EU, um harte Vorgaben etwa für die Autoindustrie, um einschneidende Reformen in den Sozialsystemen – Stichwort: Bürgerversicherung –, um eine Ende der Rüstungsexporte, war und ist die Kompromissbereitschaft der Kanzlerin am Ende.
Genau das ist der Geist, den auch der neue Koalitionsvertrag von Union und SPD atmet. Dass er punktuelle Verbesserungen auch im Sinne der Sozialdemokraten enthält, wird niemand bestreiten, die Wiederherstellung der Beitragsparität in der Krankenversicherung wird ja nicht zu Unrecht als Beispiel genannt. Aber wer an die Legende glaubt, das werde in Wahrheit eine „sozialdemokratische Regierung“, sollte sich einmal anhören, wie verdächtig zufrieden selbst die Angela-Merkel-Kritiker vom reaktionären und vom wirtschaftshörigen CDU-Flügel mit den Inhalten sind, sei es der Vorsitzende der Jungen Union, Paul Ziemiak, sei es Christian von Stetten von der ultra-neoliberalen CDU-Mittelstandsvereinigung.
Von Stetten sagte: „Wir haben in den Verhandlungen vieles durchsetzen können.“ Als Beispiele nennt er unter anderem „die Begrenzung des Zuzugs“ und die Steuerpolitik – und leider hat er recht. Der CDU-interne Widerstand richtet sich also nicht so sehr gegen die Inhalte, sondern entzündet sich fast ausschließlich an der Verteilung der Ressorts.
Es ist paradox, dass genau darüber nun so erhitzt diskutiert wird. Wenn sich die Aufregung gelegt und Merkel ein paar ihrer Kritiker mit einflussreichen Posten versorgt hat, wird dieser Aspekt höchstwahrscheinlich in den Hintergrund treten. Und eines muss man der Kanzlerin ja auch aus kritischer Distanz zugestehen: Ihr Verzicht auf eine stärkere personelle Repräsentanz ihrer Partei wird durch inhaltliche Erfolge mindestens ausgeglichen.
So falsch Merkels Weiter-so-Ideologie auch ist: Sie hat ihren inhaltlichen Überzeugungen Vorrang gegeben. Sie hat die Zugeständnisse an den Partner extrem klein gehalten und dafür auf wichtige Ministerien verzichtet. Sie hat damit genau das Gegenteil dessen getan, was Martin Schulz am Ende die politische Karriere gekostet hat. Das werden auch die Reaktionären und die Radikal-Neoliberalen in der Union noch zu schätzen lernen. Und dass ausgerechnet ein SPD-Rechter wie Olaf Scholz als Bundesfinanzminister eine echte Wende in der verfehlten Haushalts- und Europolitik einleitet, das müssen sie nun wirklich nicht befürchten.
Auf kurze Sicht also gilt: Wenn die SPD-Linken die Kanzlerin nicht tatsächlich ins Wanken bringen, indem sie Nein sagen zum Koalitionsvertrag, dann wird sie das Land noch weitere vier Jahre lang mit dem versorgen, was sie für „stabile Verhältnisse“ hält. So gesehen können diejenigen in Politik und Medien, die solche Verhältnisse für angebracht halten, sich langsam wieder entspannen.
Sorgen allerdings muss sich machen, wer eben diese Art ruhiger Routine mit gutem Grund für das größte Risiko hält. Wenn noch einmal vier Jahre über die Brüche in unserer Gesellschaft – die materiellen wie die mentalen – hinwegregiert wird, dann wird sich der Reformstau in noch mehr Unzufriedenheit und Wut verwandeln. Und am Ende wird die Erkenntnis stehen, dass diejenigen in den ehemaligen Volksparteien, die sich in die Große Koalition retten zu müssen glaubten, ihren eigenen Untergang damit nur beschleunigt haben. Die Rassisten von rechts wird es freuen.
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