Freut euch, Freunde des Fortschritts, bei Angela Merkel ist Frühjahrsputz! Da können die CDU-internen Verfechter der guten, alten Ordnung so lange klagen, wie sie wollen: Von den beliebtesten Staubfängern im Schaufenster der wertekonservativen Partei ist beinahe nichts mehr zu sehen – alle abgeräumt. Bald sollen sogar Schwule und Lesben dürfen, was alle dürfen: Kinder adoptieren.
Vom „Linksruck“ der Kanzlerin raunen liberale Bewunderer und konservative Kritiker gleichermaßen. War es nicht ihre Regierung, die die Energiewende vollzog? Ist es nicht ihr Finanzminister, der in Europa die Finanztransaktionssteuer vorantreibt? Spricht nicht sie selbst immer häufiger von Mindestlohn, der auch in Deutschland gelten müsse? Ist es nicht s
es nicht sie, die jetzt in der Türkei für ein „neues Kapitel“ der EU-Beitrittsverhandlungen wirbt? Und ringt sich ihr Innenminister Hans-Peter Friedrich nicht gerade dazu durch, die NPD verbieten lassen zu wollen – wo er doch bisher ziemlich anderer Meinung war?Ja, alles richtig. Bevor allerdings zu große Begeisterung entsteht, sollte man sich Angela Merkels Partei genauer ansehen. Was da – vielleicht nicht in den Schaufenstern, aber in den Lagerräumen bestimmt – herumsteht, ist oft nichts als Nippes oder schlechtes Imitat.Im Kern hat Angela Merkel auch nach gut zwei Legislaturen im Kanzleramt noch ein durch und durch marktliberales und in Teilen auch stockkonservatives Sortiment. Noch immer will sie die Umverteilung von unten nach oben nicht korrigieren. Im Gegenteil, sie hat sich entschieden, das Thema wie eh und je zu ignorieren: kein höherer Spitzensteuersatz, keine Vermögensabgabe, kein Einstieg in eine gerechtere Verteilung der Kosten für die Sozialsysteme. Und: Es hat sich auch nichts geändert am gezielten Einsatz alt-konservativer Reflexe, mit denen sich der rechte Rand so wunderbar bedienen lässt – zum Beispiel die rassistischen Untertöne in der Flüchtlingspolitik. Mehr noch: Auch da, wo Angela Merkel die Modernisiererin gibt, bleibt bei genauem Hinsehen nicht allzu viel übrig.Die sanfte Kanzlerin: ein Herz für Schwule und LesbenBis zum jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Adoptionsrecht von homosexuellen Paaren vor zwei Wochen verharrte die Kanzlerin wie so oft im Wartestand. Sie wusste sehr wohl, dass sie am Ende zwei Optionen haben würde: Im wahrscheinlicheren Fall würde Karlsruhe erlauben, dass jemand das bereits adoptierte Kind des Partners oder der Partnerin ebenfalls adoptieren darf. So kam es, und Merkel tat so, als hätte sie das gewollt.Hätte Karlsruhe wider Erwarten anders entschieden, dann wäre das für die CDU-Vorsitzende auch kein Beinbruch gewesen: Die Altkonservativen hätten etwas zu jubeln gehabt, und alles wäre beim Alten geblieben. Welche Flanke – die ganz rechte oder die etwas liberalere – sie im konkreten Fall bedient, das ist der Kanzlerin egal. Wichtig ist, jeden Teil mal zu bedienen.Mag sein, dass Angela Merkel nun homosexuellen Paaren auch das vollständige Adoptionsrecht insgesamt gewährt. Für die Betroffenen wäre das sehr schön. Aber sie sollten es nicht mit fortschrittlicher Politik verwechseln. Es handelt sich um vom höchsten Gericht getriebene, überzeugungslose Macht-Arithmetik. Ist es das, was wir uns unter einer Kanzlerin der Modernisierung vorstellen? Eine Getriebene, die nichts anderes tut, als das Wasser des gesellschaftlichen Fortschritts auf ihre Mühlen zu lenken?Viel Rauch um nichts: Merkels Annäherung an die TürkeiAls die Bundeskanzlerin am vergangenen Wochenende die Türkei besuchte, las man in den Zeitungen plötzlich Überschriften wie „Merkel macht Tempo bei EU-Beitrittsprozess“. Was war geschehen, mochte sich mancher fragen. Aber, nein, nichts.Im Fall Türkei allerdings gibt es derzeit kein Verfassungsgericht, das die CDU-Chefin zur Korrektur beliebter Parteipositionen zwingen würde. So war das Signal von Ankara ein Symbol ohne realen Wert. Ein weiteres der 35 Kapitel in den Beitrittsverhandlungen zu öffnen (es wäre gerade das 14.), das zwänge die Kanzlerin zu nichts.Es stimmt: Um einige Voraussetzungen eines EU-Beitritts steht es in der Türkei sogar schlechter als vor Jahren, zum Beispiel um die Meinungs- und Pressefreiheit. Aber interessiert das eine Kanzlerin, die Waffen an Diktaturen wie Saudi-Arabien liefern lässt? Interessiert sie sich für das Argument, dass gerade ein konsequent durchgehaltenes Beitrittsverfahren den Druck auf die Regierenden erhöhen würde, die Repression zu beenden?Eher nicht. Es muss daher vermutet werden, dass die CDU-Vorsitzende hier – wie auch in der „Flüchtlingsbekämpfung“ – ein Politikfeld sieht, auf dem sie die konservativen Hardliner in der Partei für das entschädigen kann, was ihnen zum Beispiel bei der Gleichstellung der Homosexuellen zugemutet wird.Teurer Ökostrom: Der kommt doch aus der SteckdoseDer talentierteste Marketing-Mann in Merkels Laden heißt Peter Altmaier. Der Umweltminister ist drauf und dran, der Energiewende das Genick zu brechen und die Hinrichtung als lebensrettende Maßnahme zu verkaufen.Immer wieder erwecken die Regierung und ihre Freunde in der Wirtschaft den Eindruck, die steigenden Strompreise hätten vor allem eine Ursache: die EEG-Umlage, also den Beitrag der Stromkunden zur „Belohnung“ der Hersteller regenerativer Energie. Richtig ist: Die Umlage ist gestiegen. Zum Teil richtig ist: Das hat mit dem Erfolg der „Erneuerbaren“ zu tun, deren Anteil am Strommix steigt. Und mit ihm die Kosten für die EEG-Umlage. Richtig ist aber auch, dass die Preise an der Strombörse sinken, weil erneuerbare Energien keine Rohstoffe brauchen. Nur: Die großen Stromversorger geben diese Preissenkungen nicht an die Kunden weiter. Die zahlen stattdessen die EEG-Umlage. Von ihr wiederum wurden unter Schwarz-Gelb mehr Unternehmen befreit denn je, was sie für den Normalverbraucher noch teurer macht.Was tut das Marketing-Genie Altmaier? Er kappt die EEG-Umlage und damit die erfolgreiche Förderung erneuerbarer Energien. Und zwar nicht nur da, wo Aufwand und Ertrag nicht zueinander passen, sondern allgemein und global. Zum Trost für grüne Wähler soll auch die Befreiung einiger Unternehmen von der EEG-Umlage zurückgenommen werden. Wir können sicher sein: Die Zahl der Betriebe, die nicht zahlen, wird danach immer noch höher sein als unter Rot-Grün. Und wir schimpfen auf den Preis der Öko-Energie.Fairness light: Mindestlohn ist nicht gleich MindestlohnDas Wort „Lohnuntergrenze“ ist für Überschriften schlecht geeignet. „Mindestlohn“ klingt besser. So kommt es, dass wir immer häufiger Schlagzeilen lesen wie „Merkel für Mindestlohn“.Mit einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn hat das CDU-Konzept allerdings wenig zu tun. Die Festlegung der Untergrenze durch die Tarifparteien sorgt fast automatisch dafür, dass weniger herauskommt als bei einer gesetzlichen Regelung: Gerade wenn es um tariffreie Bereiche geht, werden die Gewerkschaften wenig Druckmittel haben, denn dort sind sie schwach. Zusätzlich sieht die CDU eine Orientierung am Lohnniveau der Zeitarbeit vor. Und das liegt deutlich unter den von SPD und Gewerkschaften geforderten 8,50 Euro pro Stunde.So stellt Merkels „Mindestlohn light“ womöglich hier und da einen Fortschritt dar. Im Ganzen aber handelt es sich um ein Manöver zur Abwehr der populären Forderung nach einem gesetzlichen und auskömmlichen Mindestlohn für alle. Wenn dann sogar noch spiegel.de „Genossin Merkel“ titelt – was sollte eine Kanzlerin dagegen haben, die doch unbedingt ein paar Stimmen aus dem rot-grünen Lager braucht?Die bösen Banken bestrafen: Die Zeit muss dafür reif seinHier gilt ähnliches wie beim Thema Mindestlohn: Weil die CDU befürchten muss, bei der Bundestagswahl im September entscheidend an Stimmen zu verlieren, ist sie wenigstens an einer Stelle einer populären Forderung nachgekommen: Sie beteiligt die Finanzindustrie an den milliardenschweren Kosten der von ihr selbst verursachten Krise.Zusätzlich gab es in diesem Fall einen konkreten und nahezu zwingenden Anlass einzulenken. Sie brauchte im vergangenen Jahr die Zustimmung der Opposition zu ihrem „Fiskalpakt“ – also zu dem Instrument, das der Unterwerfung EU-Europas unter das einseitige und konjunkturschädliche Spardiktat nach deutschem Muster dient.SPD und Grüne forderten damals eine zweifache Gegenleistung: konsequenten Einsatz für die Besteuerung von Börsengeschäften und Einführung eines gemeinsamen europäischen Schuldentilgungsfonds. Für Angela Merkel war die „Vergemeinschaftung von Schulden“ nicht zu akzeptieren. Sie hätte ja nichts anderes bedeutet, als die ärmeren EU-Staaten von überhöhten Zinsen zu entlasten, indem die reicheren etwas mehr bezahlen. Einen Akt also genau derjenigen europäischen Solidarität, die Deutschlands Regierungschefin konsequent verweigert, weil sie die deutsch dominierte Austeritäts-Politik gefährden könnte.So blieb als Zugeständnis nur die Finanztransaktionssteuer. Finanzminister Wolfgang Schäuble musste nur noch rasch die Mindestzahl von elf EU-Mitgliedern zusammenbringen, um die Einführung der Abgabe in die Wege zu leiten.Am Ende glaubt alle Welt, Angela Merkel tue den Finanzjongleuren mal so richtig weh. Und kaum einer merkt, dass es mit der Einführung der Steuer wohl nicht einmal 2014 etwas wird. Das war nur eine Kurzmeldung in der Zeitung.Gegen Nazis sind alle: Da lohnt es sich mitzumachenSelbst beim Kampf gegen Neonazis laviert unsere Kanzlerin – wie bei allen Themen, die ihr, anders als Wirtschafts-Förderung und Sozialabbau, nicht am Herzen liegen. Nun heißt es, die Bundesregierung wolle sich dem Verbotsantrag der Länder doch mit einer eigenen Initiative anschließen.Man kann an der Sinnhaftigkeit der Strategie, Rassismus und Rechtsextremismus per Verbot zu bekämpfen, große Zweifel haben. Man könnte diese Zweifel auch offensiv vertreten. Aber Deutschlands Bundeskanzlerin schweigt. Sie weiß nur eins: Der heutigen Opposition die Initiative zu überlassen, das geht für sie nicht. So ließ die Regierung offenbar prüfen, ob man dem Verbotsantrag der Länder beitreten könnte, ohne sich in die eine oder andere Richtung allzu weit aus dem Fenster zu lehnen.Das geht nicht? Na, dann macht man halt doch einen eigenen Verbotsantrag. Hauptsache, man kann sagen: Gegen die Nazis sind wir doch alle.
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