Dieser Tage ist die »Ich-AG« von Linguisten zum »Unwort des Jahres 2002« gekürt worden. Die Wortbildung, durch die Reformvorschläge zur Arbeitsmarktpolitik der Hartz-Kommission prominent geworden, sei - so die Jury - als Ausdruck der »Herabstufung von menschlichen Schicksalen auf ein sprachliches Börsenniveau« untragbar. Die Wortschöpfung aber hat, aller moralisierenden Kritik der Sprachwissenschaftler zum Trotz, durchaus etwas Genialisches. Die »Ich AG«, von Marcel Reich-Ranicki als »abscheuliches und sinnloses Wort« gebrandmarkt, ist nicht umsonst seit dem Sommer 2001 vom Deutschen Patent- und Markenamt als Marke eingetragen. Die Markeninhaberin, promoviertes Vorstandsmitglied einer PR-Agentur in Frankfurt (West), beklagt sich nun, »ihre« Ich-AG sei durch die Hartz-Kommission »semantisch umgemünzt« worden: Das Markenzeichen diene der Charakterisierung der Lebenswelt von New Economy-Aufsteigern, nicht jener von Arbeitslosen. Der Begriff stehe für die Aufforderung an die Menschen, das Beste aus ihren Möglichkeiten zu machen, weil das auch der Gesellschaft helfe.
Damit aber hat die Public Relations-Spezialistin - und sei es ungewollt - den Nerv der Zeit getroffen. Zwar scheint ihr nicht bewusst zu sein, dass die Start Up-Unternehmer von gestern nicht selten die Arbeitslosen von heute sind, beide Sozialfiguren in dynamischer Perspektive also zu einer einzigen zu verschmelzen beginnen. Aber mit dem Hindeuten auf den gesellschaftlichen Nutzen individueller Chancenverwertung weist ihre Vorstellung von der Ich-AG weit über die technischen Überlegungen der Hartz-Kommission bzw. die mittlerweile erlassenen gesetzlichen Regelungen hinaus. Die Rede von der Ich-AG wird mehr und mehr zur Chiffre der neuen Gestalt sozialstaatlicher Politik schlechthin; sie bezeichnet die politisch handlungsleitende, zunehmend reale Utopie gegenwärtiger Gesellschaftspolitik.
Die Hintergrundidee der Ich-AG besteht in dem durch die Sozialversicherung subventionierten und abgesicherten Übergang von der Arbeitslosigkeit in die Selbstständigkeit. Vormalige Leistungsempfänger erhalten demnach, wenn sie eine selbstständige Tätigkeit aufnehmen - so lange, wie ihr Einkommen 25.000 Euro im Jahr nicht übersteigt - einen steuerfreien, degressiv gestalteten Zuschuss aus der Arbeitslosenversicherung. Lässt man einmal die Debatte um die Wirksamkeit dieser Maßnahmen beiseite - ungeachtet, ob sich Befürchtungen bestätigen, damit werde neuen Formen der Scheinselbstständigkeit beziehungsweise der Niedriglohnbeschäftigung der Boden bereitet oder ob die Inanspruchnahme des Instrumentes sowieso gering sein wird: Die Bedeutung des Projektes Ich-AG liegt mindestens so sehr in dessen grundsätzlichen Intentionen wie in seinen unmittelbaren Effekten.
Denn die Vorstellung, dass die Arbeitslosen sich möglichst selbsttätig in - im Zweifel wenig attraktive, gering entlohnte, schlecht gesicherte - Beschäftigung manövrieren mögen, reflektiert auf besonders markante Weise die grundlegende Leitidee der jüngeren deutschen Sozialpolitik. Nicht nur das gesamte, über die Ich-AG weit hinausgehende Konzept der von Personalmanager Peter Hartz geleiteten Kommission weist in die Richtung zunehmender Selbsttätigkeit der Sozialstaatsbürger und -bürgerinnen. Veränderte Meldepflicht-, Zumutbarkeits- und Sperrzeitregelungen, die Einrichtung von Job-Centern und Personal-Service-Agenturen: All dies bildet nur die Spitze des Eisbergs einer politischen Programmatik des »Förderns und Forderns«, welche die gesamte Politik sozialer Sicherung durchzieht; einer Programmatik geforderter Eigenverantwortlichkeit und geförderter Selbstsorge der Menschen - zum Nutzen und Frommen der Gesellschaft.
Diese Programmatik mag nun nicht gänzlich neuartig, nicht völlig beispiellos sein: Dies zu behaupten, wäre sicher falsch. Sie stellt jedoch eine deutliche Verschiebung zumindest mit Blick auf jenes sozialregulative Programm dar, das über einige Jahrzehnte hinweg den Sozialstaat der Nachkriegszeit auszeichnete. Dieser Sozialstaat, auf- und ausgebaut im »goldenen Zeitalter« beständigen wirtschaftlichen Wachstums, war im wesentlichen durch die weitgehende Vergesellschaftung der allfälligen Risiken der Lohnarbeiterexistenz gekennzeichnet. Individuell auftretende, die wirtschaftliche Existenz eines durchschnittlichen Arbeitnehmerhaushaltes bedrohende Gefährdungen und Schädigungen - Krankheit und Kinderreichtum, Arbeitslosigkeit und Altersschwäche - wurden in soziale, das heißt gesellschaftlich verursachte und kollektiv regulierbare Risiken umgedeutet. Die ältere Idee der individuellen Verantwortung für die finanzielle Regulierung des entstandenen Schadens, die stets dem Geschädigten zumindest implizit Schuld zurechnete, wurde im modernen »Wohlfahrtsstaat« durch das Prinzip der gesellschaftlichen Verantwortlichkeit, der sozialen Versicherung ersetzt. Die materiellen Kosten der Wiederherstellung der Gesundheit, der Erziehung von Kindern, der Überbrückung von Zeiten der Nichtbeschäftigung oder der Finanzierung des verdienten Ruhestands wurden auf die Allgemeinheit, auf die Gemeinschaft der Gefährdeten übertragen. Notwendige Voraussetzung hierfür war allerdings der (unausgesprochene) Konsens, dass der tatsächliche Eintritt des Risikofalls und die damit einhergehende Schädigung auch moralisch nicht dem oder der Betroffenen angelastet werden solle. Die »Gesellschaft«, so die Geschäftsgrundlage des Sozialstaats alter Schule, sei für die Gefährdung der Existenz ihrer Mitglieder verantwortlich - und dementsprechend auch verpflichtet, die fortgesetzte Sicherheit dieser Existenz zu gewährleisten.
Nun - die Zeiten, sie sind nicht mehr so. Nicht, dass im alten Wohlfahrtsstaat alles Gold gewesen wäre, was glänzte: Wie wir wissen, operierte dieser mit einer Vielzahl von Mechanismen der Spaltung der Bevölkerung in besser oder schlechter gesicherte, ganz oder gar nicht geschützte gesellschaftliche Gruppen. Es handelte sich bei dem Sozialstaat, wie wir ihn kannten, keineswegs allein um einen wohltätigen Garanten sozialer Rechte, sondern er produzierte im Gegenzug immer auch eifrig neue soziale Ungleichheiten. Gleichwohl gilt es festzuhalten, dass dieser Sozialstaat auf dem Prinzip der gesellschaftlichen Verantwortlichkeit für individuelles Wohlergehen beruhte - und dass die gegenwärtige sozialstaatliche Politik im Begriff ist, eben dieses Beziehungsverhältnis umzupolen. Damit wird die Idee einer individuellen Zwecken verpflichteten Gesellschaft in ihr Gegenteil verkehrt. Es ist dieser - jedenfalls mit Blick auf die jüngere Vergangenheit des westeuropäischen Wohlfahrtskapitalismus - neuartige Zusammenhang, den der Begriff der Ich-AG auf unnachahmliche Weise synthetisiert; genau darin liegt seine zeitdiagnostische Bedeutung.
Im Zentrum der Umprogrammierung der überkommenen Sozialpolitik steht die Rückkehr vom gesellschaftlichen zum individuellen Risikomanagement, von der öffentlichen Versorgung zur privaten Vorsorge, von der sozialen Sicherheit zur persönlichen Selbstsorge. Diese Umkehr folgt interessanter Weise einem doppelten - ökonomischen und moralischen - Motiv. Der alte »Versorgungsstaat«, heißt es, sei zu teuer; »wir« können ihn uns nicht mehr leisten. Das aber sei im Grunde genommen gar nicht so schlimm, die finanziellen Engpässe hätten auch ihr Gutes: Die Versorgungsprogrammatik ist nämlich ohnehin, so hört man, auch in moralischer Hinsicht problematisch. Der Sozialstaat der Vergangenheit habe die Menschen passiv werden lassen, in Verhältnisse der Abhängigkeit und Fremdbestimmung gebracht; er habe ihnen den Antrieb zur Selbstverantwortung genommen, den Stachel der Eigenaktivität gezogen, er hielte sie gefangen in Sozialhilfe-, Arbeitslosigkeits- und Hausarbeitsfallen. Der Sozialstaat der Zukunft müsse in all diesen Punkten gegensteuern, soll er nicht nur finanzierbar, sondern auch legitimierbar sein: Er muss die Menschen aktivieren, aus der Unmündigkeit entlassen, zurück in die Selbstbestimmung führen. Der alte Sozialstaat war vielleicht gut gemeint, aber nicht gut; der neue Sozialstaat mache nicht alles anders, aber vieles besser.
Kernelement der veränderten sozialstaatlichen Programmatik ist dementsprechend die sozialpolitische Konstruktion verantwortungsbewusster Subjekte. Im »neuen Menschen« der Sozialpolitik verbinden sich auf »glückliche Weise« individuelle und gesellschaftliche Rationalität; er - und sie - ist ökonomisches und moralisches Individuum zugleich. Dies bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass man sich ökonomisch rational verhält - aus Verantwortung für das große Ganze; man nutzt seine Marktchancen - und dient damit der Allgemeinheit; man wird zum aktiven, eigenverantwortlichen, selbstversorgenden Menschen - den anderen Menschen, der »Gesellschaft«, zum Wohlgefallen.
Prophylaxe, Prävention und Eigenvorsorge sind in diesem Kontext die sozialpolitischen Instrumente der Wahl: Garanten selbsttätiger, sozialverpflichteter Sicherung. Der neuen, doppelten Logik des Sozialstaats entsprechend werden sie zugleich als Zeichen persönlicher Autonomie - i.S. der selbstbestimmten Verfügung über den eigenen Körper, den eigenen Nachwuchs, das eigene Geld - wie auch als Ausweis sozialer Verantwortlichkeit der Individuen gedeutet: Wer selber rechtzeitig vorbeugt, vorleistet, vorsorgt, der fällt später niemand anderem zur Last. Umgekehrt verweisen in diesem Sinne mangelnde Selbsttätigkeit und fehlende Eigenvorsorge nicht nur auf die Unfähigkeit des Einzelnen, von seiner Freiheit angemessenen Gebrauch zu machen, sondern darüber hinaus auf die Weigerung, gesellschaftlichen Bedürfnissen gerecht zu werden. So oder so erfordert entsprechend inadäquates Verhalten der Sozialstaatsbürger und -bürgerinnen jedenfalls umfassende Maßnahmen sozialpolitischer Verhaltenssteuerung. Gegen die durch Gegenleistungen nicht gedeckte, »ausbeuterische« Inanspruchnahme sozialer Leistungsangebote darf und muss sich die Gesellschaft selbstverständlich verteidigen.
Den Ton dieser Debatte hat Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner diesjährigen Neujahrsansprache vorgegeben, als er nicht schlicht für »mehr Eigenverantwortung jedes Einzelnen« plädierte. Darüber hinaus betonte er, das Soziale unserer Marktwirtschaft liege darin, dass jeder die gleichen Chancen habe - und zugleich die Pflicht, diese Chancen auch zu nutzen. Die Pflicht zur Nutzung der Marktchance, die persönliche und gesellschaftliche, ökonomische und moralische Pflicht zum Selbstverantwortlichsein: Das ist die Ideologie der Ich-AG. Bei deren Umsetzung sei, so der Kanzler, zum Wohle des Ganzen an einem Strang zu ziehen: »Niemand darf blockieren oder behindern.«
Bei der Auflösung von Blockaden und Behinderungen gehen insbesondere Ökonomen und Grüne mit gutem Beispiel voran. So war es unlängst die grüne Finanzexpertin Christine Scheel, die vor laufenden Kameras das Loblied auf die Bürgerfreiheit der selbstbestimmten Wahl der individuellen Kapitalanlageform im Rahmen einer erweiterten privaten Altersvorsorge anstimmte. Bernd Raffelhüschen, Wirtschaftswissenschaftler und Rürup-Kommissionsmitglied, schlägt vor, den Zahnersatz aus dem Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung zu streichen, weil Zahnverfall kein Risiko, sondern ein vorhersehbares Ereignis und entsprechende Prophylaxe gesellschaftlich wünschenswert sei. Der Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung in München, Hans-Werner Sinn, wiederum hielte es für angemessen, jene Menschen, die kinderlos bleiben und damit einen Humankapitalbeitrag zum gesellschaftlichen Generationenvertrag verweigern, durch Halbierung der umlagefinanzierten Rente ersatzweise zu entsprechender Realkapitalbildung anzuhalten.
Aber die Tendenz zur Ökonomisierung und Moralisierung sozialer Sicherheit verbleibt keineswegs nur im Bereich des Rhetorischen; sie beginnt die gesamte Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zu durchziehen. Ob es nun das Job-AQTIV-Gesetz ist, das auf die Mobilisierung der Arbeitslosen zielt und »unangepasstes Verhalten« derselben mit Leistungsentzug beantwortet; das Altersvermögensbildungsgesetz, das die durch die Absenkung des gesetzlichen Rentenniveaus erforderlich gewordene private Zusatzvorsorge öffentlich subventioniert; oder ob es die jüngsten Empfehlungen des Nationalen Ethikrates sind, die der gesundheitspolitischen Nutzung genetischer Selbsterkenntnis- und Vorsorgetechnologien Tür und Tor öffnen - das Fördern und Fordern sozialer Selbststeuerung der Individuen sind die Zeichen der Zeit.
Die Ich-AG spiegelt diese Zeichen nicht nur technisch, als Instrument der Anleitung zur Selbstbeschäftigung, sondern - mehr noch - symbolisch wider. Die Ich-AG ist das Symbol der Funktionalisierung ökonomisch und moralisch zugerichteter Individuen für gesellschaftliche Zwecke. Das Kürzel »AG« steht dabei einerseits für das Ich als Aktiengesellschaft: für das ökonomische Individuum, für die selbstgesteuerte Verwertung der eigenen Arbeitskraft, für den Menschen als Unternehmer seiner selbst. Andererseits lässt sich »AG« auch als Verweis auf das Ich als Arbeitsgemeinschaft lesen: auf das moralische Individuum und auf das zu sozialer Kooperation und Erfüllung eines gesellschaftlichen Nutzens bereite, gemeinwohldienliche Wesen.
Peter Hartz wollte sich Zeitungsberichten zufolge zur Unwort-Wahl nicht äußern. Marcel Reich-Ranicki hingegen brachte nicht nur sein Sprachgefühl, sondern zugleich auch die Logik gegen den Begriff in Anschlag: »Entweder ich oder AG - beides zusammen geht nicht.« Ob das aber tatsächlich stimmt? Die neue Sozialpolitik ist dabei, den Gegenbeweis anzutreten: Als öffentliche Anleitung zum Selbstverantwortlich- und, so steht für viele Menschen dieser Republik zu vermuten, zum Unglücklichsein.
Stephan Lessenich ist Privatdozent an der Georg-August-Universität, Institut für Sozialpolitik Göttingen.
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