Die Macht der Bombe

Leichtsinn und Vertuschung durchziehen die Geschichte der nuklearen Rüstung wie ein roter Faden. Fehler waren im System nicht vorgesehen, aber sie passierten − mit verheerenden Folgen

Buch der Woche
Stephanie Cooke: Atom - Die Geschichte des nuklearen Zeitalters

Leseprobe
Irgendwann in den frühen 1960er-Jahren kam Gaston Palewski auf die Idee, einen Bombentest sehen zu wollen. Als Minister für Forschung und Technik war er − im Zweiten Weltkrieg einst de Gaulles Stabschef − bürokratisch für Frankreichs Nuklearprogramm zuständig, hatte sich jedoch vor allem als famoser Frauenheld und durch seine lange, stark beachtete Affäre mit der britischen Schriftstellerin Nancy Mitford hervorgetan. Letzten Endes eroberte ihn jedoch die reiche, schöne Enkelin des zwielichtigen amerikanischen Finanziers Jay Gould mit dem wohlklingenden Namen Violette de Talleyrand-Périgord.

Wenn Palewski der Mitford tatsächlich das Herz brach, wie es hieß, so musste er später, als er im Atlasgebirge einem unterirdischen Bombentest beiwohnte, offenbar am eigenen Leibe erfahren, wie schlimm es sein kann, sitzen gelassen zu werden. Als nach der unbeabsichtigten „Entlastung“ des Explosionsdrucks radioaktive Partikel auf die algerisch-marokkanische Grenzregion regneten, eilte alles in Deckung, ohne an ihn zu denken. „Erst bebte der Berg“, erinnerte sich der ebenfalls anwesende ehemalige CEA-Beamte André Finkelstein, „und dann riss ein Spalt auf, aus dem eine radioaktive Wolke entwich, woraufhin alle sehr schnell verschwanden.“ Die anderen Funktionäre hätten Zuflucht in ihren Autos gesucht, doch Palewski packte es nicht. „Dann sagte jemand: ,Wir haben den Minister vergessen!‘, und als sie ihn wiederfanden, war Palewski ganz grün.“ Als er diese Episode erzählte, rollte Finkelstein das R und dehnte den Umlaut − gar-üüün. „Die medizinischen Physiker hatten einen Heidenspaß daran, den Minister abzuschrubben.“

Das Leben am Rande des Abgrundes machte die Nuklearexperten leichtsinnig, auch wenn sie das selbst keineswegs so sahen und sich gegen dieses öffentliche Image wehrten. Zum Beispiel sprach Willard Libby von der amerikanischen AEC 1965, also etwa zur Zeit des französischen Tests, mit hochfahrenden Worten über das Nuklearunternehmen, so als wären die zuständigen Funktionäre gottgleiche, fast allmächtige Magier. „Es ist die Aufgabe des Menschen, die Welt oder wenigstens die Erde zu beherrschen“, erklärte der Nobelpreisträger. „Mithilfe seiner Intelligenz muss er die Naturkräfte steuern und für seine Zwecke nutzen, um die Welt der Zukunft nach seinem Vorbild zu erschaffen. Diese Möglichkeit besteht. Das ist in meinen Augen die Stellung des Menschen im materiellen Universum: Nämlich durch die nur ihm zur Verfügung stehende Kraft, die Macht der Intelligenz, sein König zu sein.“

Nach der Kubakrise schien es eine Zeit lang so, als seien die Nukleargefahren gebannt. Schließlich einigte man sich auf ein Testverbot, und die beiden Supermächte richteten spezielle rote Telefone ein, um den versehentlichen Ausbruch eines Atomkriegs zu verhindern. McNamara ordnete auch an, alle Minuteman-Waffen mit Unfall- und Missbrauchssicherungen, genannt Permissive Action Links (PALs), auszustatten. Doch das Testverbot enthielt Ausnahmen und trieb insofern bloß die unterirdischen Versuche voran, was neue Probleme aufwarf und jedenfalls nicht verhinderte, dass sich „Druckentlastungsphänomene“ − wie das von Palewski erlebte − wiederholten.

Außerdem hing das „Königliche“ vom Standort des Einzelnen im Atomzeitalter ab. Jene Spanier, die mit ansahen, wie die Fracht thermonuklearer Waffen einer durch Kollision explodierten B-52 auf ihr Gebiet stürzte, konnten die SAC-Piloten kaum als „Könige der Lüfte“ verehren, wie diese selbst sich sahen. Aus ihrer Perspektive verloren die Herrschenden augenscheinlich jede Kontrolle. In Militärkreisen kannte man ein weiteres Geheimnis: Die PALs und ähnliche Sicherungssysteme mit dem Zweck, die Autorität des Präsidenten im Fall einer Nuklearkrise zu stärken, wirkten dem sogar entgegen, verlagerten die Macht über den Raketeneinsatz faktisch auf jene, die am Drücker saßen. Damit war die Entscheidung über Krieg und Frieden dem Präsidenten mehr entzogen als je zuvor und entsprechend missbrauchsanfällig das Arsenal selbst.

Die Rüstungslobby hatte sich fest eingenistet

Trotz aller ihrer spannungsreichen Momente trug die Kubakrise wenig dazu bei, die Chancen für ein umfassendes Testverbot zu verbessern, wie Kennedy, Rabi und Zuckerman gehofft hatten, da die Rivalität des Kalten Kriegs nach wie vor in der Macht des Atoms wurzelte. Jene Gruppen, die sich dieser Dynamik bedienten, strebten kaum grundlegende Veränderungen an. Zwar kamen die Gespräche am grünen Tisch ein Stück weit voran, aber dann schritt die Kernwaffenlobby ein, um eine umfassende Lösung zu verhindern. Nach der Unterzeichnung am 5. August 1963 musste das begrenzte Teststoppabkommen noch die Ratifizierung im Kongress durchlaufen, und dies gelang nur mit Zugeständnissen an die Rüstungslobby, um die Zukunft der Forschung und Entwicklung auf diesem immens lukrativen Gebiet zu sichern.

Als entscheidender Förderer des vollständigen Testverbots trat der von Kennedy ernannte AEC-Vorsitzende Glenn Seaborg auf. Daneben hatte der Präsident einflussreiche Senatoren auf seiner Seite, darunter Everett M. Dirksen aus Illinois, der alternde Fraktionsvorsitzende der minoritären Republikaner, der auch dem eigenen Andenken in der Nachwelt zuliebe für eine solche Regelung plädierte. Pathetisch erinnerte er an jenen „strahlend schönen Tag“ im August 1945, als die Enola Gay ihre Bombenluken über Hiroshima öffnete und „der Schoß von Mutter Erde zum ersten Mal durch ein Menschenwerk aufgerissen wurde, das wir als Kernwaffe bezeichnen. Ich möchte einen ersten Schritt machen, Herr Vorsitzender“, erklärte Dirksen. „Ich bin nicht mehr der Jüngste, und ein Mann meines Alters denkt ab und zu über seine Hinterlassenschaft nach. Jedenfalls würde ich ungern auf meinen Grabstein meißeln lassen: ,Er wusste, was in Hiroshima passierte, ergriff aber keine Initiative.‘“

Immer darauf bedacht, Etatanträge auch in Zukunft glatt über die Bühne zu bringen, konterte die Rüstungslobby mit dem Argument, dass feste „Garantien“ für die nationale Sicherheit notwendig seien, um das Nukleararsenal der Vereinigten Staaten technisch auf dem neuesten Stand halten zu können. Sie stellte vier Hauptforderungen: Finanzierung eines soliden Programms unterirdischer Tests, beste Ausstattung der nationalen Rüstungslabors, stetige Bereitschaft zur Wiederaufnahme atmosphärischer Tests und moderne Techniken zum Nachweis von Vertragsverletzungen seitens der Sowjets. Zwar erschienen solche Forderungen auch gemäßigten Politikern durchaus plausibel, zumal einige davon in der damaligen Situation tatsächlich berechtigt waren, doch das überragende Interesse lag darin, gute Geschäfte zu machen.

Am 24. September 1963 nahm der Senat den Antrag Kennedys mit einer komfortablen Mehrheit von achtzig zu neunzehn Stimmen an, und am 10. Oktober – fast ein Jahr nach der Beilegung der Kubakrise – trat das Abkommen in Kraft. Es verbot Tests in der Atmosphäre, unter Wasser und im Weltraum, aber nicht unter der Erde. Doch damit ließ sich die Rüstungslobby nicht abspeisen. Einen Tag nach dem Abstimmung im Senat beklagte sich der kalifornische Kongressabgeordnete Craig Hosmer schriftlich beim Präsidenten über den ganz unzureichenden Testetat der AEC. Der Republikaner hatte bereits 1950 erfolglos für den Kongress kandidiert und trat nach seiner Wahl zwei Jahre später als Frontmann für die Bombenproduzenten auf, um zusätzliche Mittel in Höhe von einer Milliarde Dollar zu fordern. Seine Wunschliste hätte bescheidene Menschen vor Scham erröten lassen, doch für seinen Staat, Sitz des Lawrence Livermore National Laboratory und einer Reihe von Rüstungsunternehmen, stand viel auf dem Spiel. Er wollte eine neue Stadt in der Nähe des Testgeländes von Nevada aufbauen und, im Dienste der Gefechtsbereitschaft, hochmoderne Raketen für atmosphärische Versuche, sollten diese wieder fortgesetzt werden. Außerdem meinte er, dass man weitere pazifische Inseln auf Tests vorbereiten müsste, forderte Diagnoseschiffe für deren Auswertung und ein Geschwader von zwölf Flugzeugen, um radioaktive Proben aus der Luft zu entnehmen − ein wahrhaft kostspieliges Programm.

Doch damit hatte Hosmer den Bogen überspannt. So hoch waren nicht einmal die AEC-internen Etatanträge, und Kennedy wies das Ansinnen mithilfe Seaborgs zurück. Gleichwohl blieb es bei der Forderung, den stetigen Fortschritt der Kernwaffenforschung und -entwicklung institutionell zu gewährleisten. Als mit dem Ende des Kalten Kriegs das Leitmotiv der „Bestandssicherung“ in den Vordergrund rückte, musste die Rüstungsbranche neue Wege der Geldbeschaffung finden. In der Folge entwickelten die Waffenschmieden fast wie Automobilhersteller immer modernere und bessere Modelle, nur dass ihre Erzeugnisse im Prinzip von Anfang an überflüssig waren, da sie ja eigentlich nie benutzt werden sollten. Doch die Sisyphusarbeit zahlte sich aus. Die Washingtoner Rüstungslobby hatte sich so fest eingenistet, dass die Ausgaben für Atomwaffen sogar in der Ära des „Tauwetters“ nach Abzug der Inflationsrate real stiegen.

Dirksen starb sechs Jahre nach seinem Ratifizierungsappell, aller Wahrscheinlichkeit nach in dem Bewusstsein, als Senator das Menschenmögliche gegen die Pest der Atomrüstung getan zu haben. Auf lange Sicht mag die Geschichte ihm recht geben, damals jedoch geriet das Abkommen kurze Zeit nach der Unterzeichnung ins Wanken, als China seinen ersten Atomtest durchführte, Indien und Israel mutmaßlich an der Entwicklung von Kernwaffen arbeiteten und Staaten wie Südafrika, Taiwan, Brasilien oder Argentinien sich auf dem Weg dorthin befanden. Der Vertrag hatte nichts dazu beigetragen, die Weitergabe von Nukleartechnik an die zum Erwerb entschlossenen Länder aufzuhalten oder weitere atmosphärische Tests der beiden Novizen, China und Frankreich (wenn auch nicht der Unterzeichner selbst), zu verhindern. Seaborg hielt sogar das begrenzte Testverbot für gescheitert − das heißt, er bezeichnete es als einen „Pyrrhussieg“.

Bei den drei anderen Atommächten hätte das Abkommen eine Phase der Zurückhaltung einleiten sollen, doch besonders in den Vereinigten Staaten trat gerade das Gegenteil ein. Da unterirdische Tests, dank der Stigmatisierung der atmosphärischen, keine PR-Probleme mehr bereiteten, lebten diese jetzt verstärkt wieder auf, brachten jedoch eigene Probleme mit sich: Die Vorbereitung war sehr kostspielig. Anstatt die Bomben an Türmen zu befestigen oder von Flugzeugen abzuwerfen, musste man fortan vertikale Schächte und manchmal außerdem horizontale Tunnels ausheben, je nach erwarteter Sprengkraft bis zu achthundert Metern tief. Außerdem waren vor jedem Versuch aufwendige Maßnahmen zu ergreifen, um den Erfolg zu gewährleisten und die Erschütterung der Erdoberfläche in Grenzen zu halten.

Nach den Tests nahm man Tiefenbohrungen vor, um die radioaktive Belastung des Umfeldes zu ermitteln. Dies alles ließ die Kosten des US-Testprogramms erwartungsgemäß deutlich ansteigen. Im Fünfjahreszeitraum 1965−1969 führten die Vereinigten Staaten amtlichen Berichten zufolge in Nevada hundertvierzig unterirdische Tests durch, die jährlich etwa eine Milliarde Dollar kosteten, gegenüber 473 Millionen, also nicht einmal der Hälfte, zum Beispiel 1958 − vor dem Moratorium. Die Sowjets hingegen veranstalteten im selben Zeitraum fünfundzwanzig unterirdische Versuche, stockten ihr Programm jedoch später auf.

Auch unter dem Aspekt des Umweltschutzes konnten unterirdische Tests keineswegs segensreich wirken. Wenn sich in den Gesteinsschichten des Geländes tiefe Risse bildeten, entwichen bei der oben beschriebenen Entlastung des Explosionsdrucks Radionuklide und vergifteten nicht nur die Umwelt, sondern auch das politische Klima, zumal grenzüberschreitende radioaktive Emissionen als Vertragsverletzung galten. In einem Fall von 1964, nach dem sogenannten Pike-Test, flog die Luftwaffe vierundvierzig Nachspüreinsätze und maß von Las Vegas bis Boulder City in Nevada, von Colorado bis Arizona erhöhte Strahlungswerte. Seaborg zufolge waren geringere Emissionen bis nach Mexiko gelangt, dessen Luftraum die Piloten allerdings nicht verletzen durften, also keine Messungen vornehmen konnten. Zwar fand sich später im Grenzgebiet radioaktiv belastete Milch, aber die Behörden ergriffen offenbar keine Maßnahmen gegen deren Verzehr. „Allerdings versprachen wir, bei unseren geologischen Gutachten künftig sorgfältiger vorzugehen und, wenn möglich, Tests nur unter für Mexiko unbedenklichen Windbedingungen durchzuführen“, schrieb Seaborg später. „Doch garantieren konnten wir nichts.“

Die Druckentlastung unterstrich eine Grundregel des Atomzeitalters: Der Mensch kann die Wege von Radionukliden nicht steuern, und sie machen auch vor nationalen Grenzen nicht halt, ob in der Luft, im Wasser oder in der Nahrungskette. Bald begannen sich Umweltgruppen für den Fall zu interessieren, aber der Nachweis unterirdischer Emissionsbahnen ist teuer und langwierig und kann oft nicht eindeutig oder zwingend geführt werden, zumal wenn die solchen Organisationen verfügbaren Mittel in keinem Verhältnis zu den Kosten der Testprogramme stehen.

Nasenabstriche und Urinproben – die Ergebnisse blieben unter Verschluss

Doch der Atom-Staat schädigte seine Bürger, die er zu beschützen vorgab, nicht nur mit solchen Versuchen. Hoch am Himmel flogen die B-52 des Strategic Air Command, an dunkle Flügelwale erinnernd, rund um die Uhr, wie es schien unbesiegbar. Sie konnten ohne nachzutanken in kaum mehr als achtzehn Stunden ein Drittel des Erdumfanges zurücklegen und trugen im Unterbauch die Waffen zur Verwüstung des Planeten. In etwa zwölftausend Metern Höhe fühlten sich die Piloten in der Tat als Herrscher der Lüfte. Sie hatten Zielordner an Bord und wussten, dass sie nach dem signierten „Go“-Befehl abdrehen und auf einer abgesicherten Route zu einem vorgegebenen Ziel fliegen würden. Eine derart raffinierte Technik duldete keine Fehler, und doch unterliefen welche, mit schwerwiegenden Konsequenzen: Dabei konnten diese mächtigen Festungen der Lüfte vom Himmel fallen wie ganz gewöhnliche Flugzeuge.

Zwei der spektakulärsten Unfälle − von insgesamt mindestens einem Dutzend − passierten nicht im eigenen Luftraum, der eine am 17. Januar 1966 über der spanischen Ortschaft Polomares, der andere am 21. Januar 1968 nahe einem Luftstützpunkt auf Grönland. In beiden Fällen trugen die Maschinen vier thermonukleare Bomben. In Spanien explodierte die Maschine der US-Luftwaffe in neuntausend Metern Höhe infolge der Kollision mit einem Auftankflugzeug des Typs KC-135. Bei den Augenzeugen hinterließ der Vorfall unauslöschliche Eindrücke. „Ich erinnere mich an all das Feuer am Himmel und die herunterstürzenden Flugzeugteile“, berichtete Antonia Flores, die damals ein junges Mädchen war, „und ich weiß noch, dass die Nachbarn zu der Stelle rannten, an der es qualmte. Wir dachten, die Wrackteile würden immer noch brennen.“

Sieben von elf Besatzungsmitgliedern der beiden havarierten Flugzeuge kamen bei der Explosion ums Leben. Eine der Bomben stürzte ins Mittelmeer. „Ich sah sie ganz deutlich, sie rauschte fast neben mir ins Wasser“, berichtete ein Fischer namens Francisco Simó Orts mehrere Jahre danach einem Fernsehteam von CNN. Ein Aufgebot von achtunddreißig Detektorschiffen der US-Marine brauchte drei Monate, um die verlorene Bombe zu finden. Obwohl Menschen wie Orts den Sturz ins Meer gesehen hatten und viele Anrainer die Suchaktion beobachten konnten, bestritt das US-Verteidigungsministerium vierundvierzig Tage lang, dass eine der Wasserstoffbomben fehlte.

Bei dem anderen Vorfall fing eine B-52 über dem grönländischen Thule Feuer und stürzte als ein infernalischer Glutofen rund zehntausend Meter tief in einen Eissee des etwa fünfzehn Kilometer westlich des Luftstützpunkts Thule gelegenen Wolstenholme-Fjords. Zuvor hatten sich sechs der sieben Besatzungsmitglieder mit dem Schleudersitz retten können.

Zwar verhinderten Schutzvorrichtungen jeweils thermonukleare Explosionen, doch im Fall Thule detonierten alle vier, im Fall Palomares zwei der vier Sprengbomben beim Aufprall, woraufhin im Umkreis von mehreren Kilometern Radionuklide wie Plutonium und Tritium niederregneten. Die Aufräumarbeiten, bei denen Tausende von Soldaten und Zivilisten mitwirkten, vielfach mit völlig unzureichender oder gar keiner Schutzkleidung, zogen sich über Monate hin.

„Aufräumen“ ist in Bezug auf nukleare Verseuchung eigentlich das falsche Wort. In Wirklichkeit verfrachtet man den radioaktiven Abfall von einem Ort zum anderen, wo er dann theoretisch für hundert, tausend oder zigtausend Jahre liegen bleibt, bis die gesamte Radioaktivität abgestrahlt ist. Sowohl in Spanien als auch auf Grönland war das − wie man besser sagen würde − „Umräumen“ eine atemberaubende, nicht zu verbergende Mammutaktion. In Spanien zum Beispiel musste man tausendvierhundert Tonnen Erde in viertausendfünfhundert Fässern bewegen. Der Fischer Simó Orts erinnerte sich: „Fünftausend Militärs kampierten dort, Generäle, Oberste, die ganzen hohen Tiere aus Nordamerika.“

Zwei Jahre später war Thule an der Reihe. Dort arbeiteten dänische und amerikanische Trupps in fast völliger Dunkelheit bei eisigen orkanartigen Winden, um Massen von Schnee, Eis und Schutt, insgesamt etwa zehntausendfünfhundert Tonnen kontaminiertes Material, in Fässer zu verladen. Die radioaktive Fracht aus Grönland und Spanien endete in einem der größten Zwischenlager der Vereinigten Staaten, auf dem Gelände des Kernkraftwerks Savannah River in South Carolina.

Während die Verantwortlichen auf Grönland offenbar so gut wie keine Vorsorgeuntersuchungen durchführten, hielten die spanischen Behörden die Ergebnisse von Nasenabstrichen, Urinproben und Emissionsmessungen im Freien unter Verschluss. Anfangs vermutete man, dass Washington entsprechenden Druck ausübte, und später hieß es diplomatischer, das Franco-Regime wolle sich keine Scherereien einhandeln.

„Die fingen an, im ganzen Ort mit einem Geigerzähler herumzumessen“, berichtete Flores, die in den 1980er-Jahren Bürgermeisterin war. „Einige Leute mussten ihre Kleidung wegwerfen, weil sie kontaminiert war. Die Fassaden spritzten sie mit einem Reinigungsmittel oder nur mit Wasser ab. Die Amerikaner erklärten uns in keiner Phase irgendetwas. Viele waren verängstigt, weil niemand wusste, was los war. Wir wussten bloß, dass wir bestimmte Sachen nicht essen, uns nicht draußen aufhalten und nichts anfassen durften − alles, aber auch alles, war vorerst verboten.“

Nach der Freigabe der Berichte 1985 verklagten mehr als fünfhundert Einwohner von Palomares die Vereinigten Staaten, was die offiziellen Gesamtkosten des Unfalles, den Materialschaden nicht eingerechnet, auf mehr als hundertzwanzig Millionen Dollar trieb. In Thule begann die Frau eines dänischen Personalchefs, die Anamnesen der achthundert dänischen Arbeiter zu sammeln, die an den achtmonatigen Aufräumarbeiten beteiligt waren. Ihre Erkrankungen reichten von Krebs − in achtundneunzig Fällen − bis zu dauerhafter Unfruchtbarkeit. Schließlich leitete Poul Schlüter, der dänische Premierminister, im Dezember 1986 eine förmliche Untersuchung an den überlebenden Arbeitern von Thule in die Wege. Radiologen vom dänischen Institut für klinische Epidemiologie berichteten elf Monate danach, dass die am Projekt „Eisdecke“ (den Aufräumarbeiten) beteiligten Personen eine um vierzig Prozent höhere Krebsrate aufwiesen als eine Vergleichsgruppe von fast dreitausend Arbeitern, die vor und nach dem Unfall, aber nicht während der Aufräumaktion dort beschäftigt waren.

Eine Anfang der 1980er-Jahre von etwa zweihundert geschädigten Dänen erhobene Sammelklage nach dem Foreign Claims Act lehnte das Gericht als „unzulässig“ ab. Während der Ermittlungen freigegebene Geheimdokumente enthüllten jedoch einen weiteren bestürzenden Sachverhalt: US-Militärpersonal, das dort mit den Einheimischen zusammengearbeitet hatte, war überhaupt nicht regelmäßig medizinisch betreut worden. Schließlich begann man bei der Luftwaffe, auf die nicht abreißenden Beschwerden zu hören, und ließ die eigenen Verfahren und Daten anhand moderner Systemanalysen überprüfen, doch die am 22. Mai 2002 bekannt gegebenen Ergebnisse bestätigten nur den ursprünglichen Befund, dass keine nennenswerte Strahlenbelastung vorlag.

Uneinnehmbare, atomar gerüstete, immer einsatzbereite Himmelsfestungen und mit radioaktiven Eisbrocken gefüllte Fässer − das waren die beiden Extreme der zwanzig Jahre zuvor von Herbert Marks diagnostizierten „eigentümlichen Souveränität“...

© 2010 by Verlag Kiepenheuer Witsch GmbH Co. KG, Köln

Atom
Die Geschichte des nuklearen Zeitalters
Stephanie Cooke
Aus dem amerikanischen Englisch von Hans Günter Holl
Kiepenheuer & Witsch
592 S., 24,95


Stephanie Cooke beschäftigt sich seit den 80er-Jahren mit der Atomindustrie. Zurzeit arbeitet sie für die Energy Intelligence Group und schreibt für das Bulletin of Atomic Scientists. Nach 20 Jahren in London ist sie in die USA zurückgekehrt und lebt mit ihrem Sohn in Kensington, Maryland


Das Buch ist am 18. März 2010 erschienen

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