Ein Europa ohne Grenzen

EU-Wahl Die europäische Demokratie sollte auf Nationalstaaten und Lobby-Übermacht verzichten, sagt Deutschlands jüngster Kandidat für das EU-Parlament, der Pirat Stevan Cirkovic
Ein Europa ohne Grenzen

Bild: Vasily Maximov / AFP

Was wäre das für ein Europa, wenn wir die Wahl nicht den anderen überließen? Den Alten. Den Populisten. Den Lobbyisten.

Das europäische Projekt steckt in der Krise. Warum? Weil Solidarität und Demokratie zwar in den Verträgen steht, aber nicht gelebt wird. Weder in der Eurokrise, die eine verlorene Generation im Süden der Union produziert, noch bei den Geheimverhandlungen um das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP.

Auf diese großen Herausforderungen reagieren die Alten mit ihrer bekannten Phrasen. Viele Reden von Politikern der sogenannten Europaparteien lesen sich wie Geschichtsbücher. Aber Europa war nicht nur ein Projekt zur Vermeidung eines weiteren Weltkriegs durch die gemeinschaftliche Aufteilung von Kohle und Stahl, auf das Vertrag nach Vertrag folgte. Europa ist auch eine ungeschriebene Zukunft. In den kommenden Jahren können wir so viel richtig und so viel falsch machen.

Ohne den Nationalstaat

Wir Piraten denken den europäischen Gedanken weiter. Als transnationale Partei leben wir eine moderne Vision eines grenzenlosen Europa. Auch die Europäische Demokratie braucht keine Grenzen. Wir möchten deshalb an einer neuen Demokratie arbeiten, die den Nationalstaat nicht braucht. Seine Grenzen trennen Menschen und verursachen unfassbar großes Leid. Wir wollen nicht ausgrenzen, sondern einbeziehen.

Gleichzeitig sehe ich Europa auch an einer Weggabelung. Ist das TTIP und mit ihm der Investitionsschutz einmal beschlossen, so ist das Volk ohnehin entmündigt – egal auf welcher Ebene. Dann können Konzerne nämlich Staaten für gemeinwohlorientierte Gesetze auf Schadensersatz verklagen, weil Umwelt-, Sozial- oder Verbraucherschutzauflagen für sie Gewinneinbußen bedeuten.

Hintertür für die Regierungen

Wie sind wir soweit gekommen? Die Europäische Union von heute entstand aus nationalen Zugeständnissen. Das Ergebnis ist ein Vertragswerk, das aussieht wie ein Flickenteppich. Nationale Interessen haben darin Vorrang vor der Gestaltung eines großen Ganzen eingenommen, mit vielen Widersprüchen und Sonderrollen. Das ist ideales Terrain für Lobbyisten, die in Abwesenheit einer kritischen Öffentlichkeit ihr Geschäft treiben können. Vor allem aber macht es das leicht für die Mitgliedsstaaten, einander die Schuld in die Schuhe zu schieben oder eine Regelung über die Hintertür einzuführen. So geschehen bei der Vorratsdatenspeicherung. Nachdem sie von Karlsruhe kassiert wurde, hat die erste Große Koalition unter Merkel sie über EU-Recht durchgedrückt. Und dann ließ man verlautbaren: „Brüssel war‘s!“

Zum Glück wurde die Richtlinie vom Europäischen Gerichtshof dieses Jahr aufgehoben. Wenig überraschend verstößt die anlasslose Überwachung von Millionen Europäern nämlich auch gegen EU-Grundrecht. Danke, Europa! Ein weiterer Lichtblick ist das Europäische Parlament. Viel zu oft wird es aber von nationalen Eigeninteressen in Geiselhaft gehalten. Seit Jahren schon fordert das Parlament nur noch in Brüssel zu tagen, weil der Wanderzirkus nach Straßburg eine Zumutung für Abgeordnete und Steuerzahler ist. Aber im Europäischen Rat blockiert Frankreich die Entscheidung - aus Prestigegründen.

Vorbild Island

Dieser Teppich braucht nicht noch einen Flicken, ein Reförmchen. Jetzt ist die Zeit, die europäische Integration auf die nächste Stufe zu heben. Never waste a crisis. Das ist das Motto der Fraktionsvorsitzenden der Piratenpartei im isländischen Parlament, Birgitta Jonsdottir.

Nirgendwo in Nordeuropa hat die Finanzkrise so zugeschlagen wie in Island. Die drei größten Banken des Landes hatten die Sparguthaben der Inselbewohner wissentlich verzockt. Nachdem das durch ein Leak bekannt geworden war, verweigerten sich die Isländer nicht nur einer Schuldenübernahme, sondern zwangen die Regierung in Reykjavik auch, eine neue Verfassung aufzusetzen. Die 25 Verfassungsratsmitglieder waren aber keine Parteipolitiker, sondern kamen aus dem Herzen der Zivilgesellschaft – und im Crowdsourcing-Verfahren konnte sich jeder und jede am Entstehungsprozess beteiligen. Die erste Verfassung, die im Internet geschrieben wurde, schrieb weitgehende Transparenz- , OpenData- und Beteiligungsprinzipien fest.

Auch wir in Kontinentaleuropa brauchen den Strukturwandel. Aus der Union der Staaten muss eine Union der Menschen werden. Wir brauchen daher einen offenen Prozess zur Erarbeitung einer Verfassung. Ein Konvent mit Delegierten der Mitgliedsstaaten wie vor zehn Jahren lehnen wir ab. Das Ergebnis wird dann EU-weit abgestimmt – an einem Tag, in einem gemeinsamen Referendum. Die Undurchsichtigkeit der Brüsseler Institutionen, die von Populisten zur Angstmache instrumentalisiert wird, müssen wir in diesem Prozess aufheben und die Ängste vieler Menschen auflösen.

Europa ist die Zukunft

Dann aber kann Europa kein Elitenprojekt mehr sein, sondern muss von unten her neugegründet werden. Mit einer modernen Verfassung, die Bürgerrechte ins digitale Zeitalter holt und anerkennt, dass Menschenrechte nicht im Mittelmeer enden. Mit einem Parlament, das seinen Namen verdient und selbst Gesetze einbringen kann. Mit starken Anti-Lobby-Grundsätzen und einer gläsernen Verwaltung. Das Wiedererstarken des Nationalstaats kann jedenfalls nicht die Antwort auf gegenwärtigen Fragen sein, wenn es nationale Egoismen sind, die uns in die Krise geführt haben und den Ausweg aus ihr versperren.

Europa ist eine Zukunft, die wir uns nicht nehmen lassen dürfen. Wir haben jetzt auch eine Chance, die Trägheit der klassischen Europaparteien zu überwinden und neue Wege zu gehen. Für uns alle persönlich bedeutet ein Europa, in dem wir die Mitgliedsstaaten als Souverän ablösen, neue Möglichkeiten. Um die europäische Demokratie auf den isländischen Weg zu bringen, brauchen wir aber jeden einzelnen. Bei der Wahl am Sonntag entscheidet unsere Stimme, nicht das Votum von Regierungen. Es ist an uns allen.

Stevan Cirkovic, 23, ist der jüngste Kandidat aus Deutschland für das Europaparlament. Er kandidiert auf Platz 12 der bundesweiten Liste der Piratenpartei

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