Hol dir, was du brauchst

Menschenjagd in Südafrika Kleine Gruppen ziehen von Haus zu Haus, singen ähnliche Lieder und stellen die gleichen Fragen

Noch immer werden am Kap Afrikaner aus Simbabwe, Mosambik, Sambia oder Nigeria verfolgt und misshandelt. Die Regierung schließt nicht mehr aus, dass die Exzesse von einem organisierten politischen Untergrund in den Townships gesteuert werden.

Wir fahren vom Zentrum der Megacity Johannesburg in die östliche Vorstadt und wundern uns über den Helikopter, der über Jepps Town kreist, dem historischen Zentrum, das einst auf Gold gebaut wurde. Heute ist das Viertel gerade noch eine heruntergekommene Industriebrache mit ein paar kleinen Geschäften, die auf Kundschaft aus den Wohncontainern hoffen. Ringsherum ausgebrannte Autos, die längst niemand mehr wegräumt. Dreck und Armut wie überall, aber hier in Jepps Town gibt es noch mehr Dreck und noch mehr Armut.

Mittags waren wir bei einer Demonstration des Gewerkschaftsbundes, der seine Anhänger zusammenrief, um gegen die Gewaltwelle zu protestieren, die seit zwei Wochen die Townships überrollt. Alle hatten davon gehört, dass kurz zuvor in der Nähe der Bahnstation von Alexandra erneut ein Mosambikaner misshandelt wurde. Alle waren entsetzt, und der Schmerz der Leute, ihre Erschütterung und Wut trösteten uns über die geringe Beteiligung hinweg.

Wie Kälber auf die Straße getrieben

Am nächsten Morgen klingelt Lesego an der Tür, ein kleingewachsener Junge von 16 Jahren, drahtig und athletisch. Für gewöhnlich dribbelt er so locker mit einem Ball, als ginge von seinen Füßen eine magnetische Kraft aus. Alle 14 Tage kommt er aus Soweto, um bei einem Gelegenheitsjob in Johannesburg etwas Geld zu verdienen. Normalerweise unterhalten wir uns über seine Schule, die abwesende Mutter und seine dürftigen Lebensumstände. Diesmal nicht. Lesego sieht erschrocken aus. In seiner Hand zerknüllt er die kleine, runde Kappe, wie sie Mitglieder der muslimischen Gemeinden Südafrikas tragen. Als er an der Jeppe-Station aus dem Sammeltaxi stieg, habe er gesehen, wie ein Gruppe von Leuten mit Schlagstöcken auf zwei Männer einprügelte. Plötzlich habe einer zu ihm herübergeschaut und gerufen: "Hey, Fremder, komm her. Hol dir ab, was du brauchst." Er habe nur noch seine Kappe vom Kopf gerissen und sei um sein Leben gerannt - bis zu uns.

Lesego ist ein stiller, reservierter Junge. Lange sagt er nichts. Wir können ihn schließlich mit süßem Tee und gutem Zureden beruhigen. "Diese Leute da draußen sind dermaßen ungebildet und glauben, die Ausländer sind am Dreck schuld, in dem wir alle leben. Die glauben wirklich, es geht ihnen besser, wenn sie Menschen umbringen." Später bringen wir Lesego zu einem Taxistand, von wo aus er nach Soweto aufbricht, um sich für den Rest des Tages in seiner Bretterbude, in der er allein und ohne Strom lebt, auf sein Schulexamen vorzubreiten. Ohne bestandene Prüfung bleibt ihm Soweto ein Leben lang erhalten

Als wir nach Hause zurückkehren, begegnen uns Aberhunderte von verwahrlosten Menschen. Eine Polizistin erzählt bürokratisch umständlich, es handle sich um Migranten aus Simbabwe, die bisher in ihrer Methodistischen Kirche gesessen hätten, aber jetzt gebe es irgendwelchen Ärger mit dem Bischof. "Mehr weiß ich nicht."

Wir erinnern uns, es war Anfang April, als das gesamte Methodistische Zentrum von Johannesburg, das bettelarmen Simbabwern bis dahin als Notunterkunft diente, von der Polizei urplötzlich in einer militärisch geführten Operation überrannt wurde, wie sie zu Zeiten üblich war, als Mandela noch auf Robben Island saß. Auf der Suche nach Illegalen wurden die Leute mit ihren zerbeulten Koffern wie Kälber auf die Straße getrieben, durchsucht, geschlagen, viele unter dubiosen Anschuldigungen festgenommen.

Die Katholische Kirche in Johannesburg, namentlich Bischof Paul, kritisierte die Aktion vehement, nannte sie illegal und bekam von Polizeioffizieren zu hören, die "Fremden" seien "einer fairen Behandlung vor dem Gesetz" unwürdig - die Menschenrechtsgarantien der Verfassung würden grundsätzlich nicht für sie gelten. Schlimmer noch, die Polizei schickte eine klare Botschaft an die simbabwische Gemeinde in Südafrika: Erhofft euch bloß keinen Schutz von uns!

Kaum zu Hause, ruft ein Freund an. Seine Stimme klingt ängstlich. Paul hat viele Jahre für eine Gewerkschaft in Simbabwe gearbeitet und versteckt sich nun in einer katholischen Kirche in Cleveland. "Mein Asyl. Für wie lange, weiß ich nicht. Wie sicher, weiß ich auch nicht." Ein betrunkener Mob habe sich erst am Denver Hostel gesammelt, wo Paul bisher wohnte, und sei danach von Haus zu Haus gezogen, um zu fragen: Bist du Zulu*? Wer ja sagte, sollte nur Geld geben. Wer zugab, kein Zulu zu sein, dessen Haus wurde geplündert. "Die haben einfach Menschen festgenommen, verhört und systematisch ausgeraubt. Von der Polizei nichts zu sehen." - "Bist du in der Kirche sicher?", wollen wir wissen. - "Wir verlassen uns nur noch auf die Gnade der Heilsarmee und des Roten Kreuzes. Sie geben uns Essen und Decken. Wenn die nicht mehr helfen können, kann uns keiner mehr helfen", antwortet Paul und legt auf.

Als wir noch einmal losgehen, um Abendzeitungen zu kaufen, beobachten wir eine Gruppe von gut 50 Männern, die aufgeregt in ihre Handys sprechen. Wie sich herausstellt sind es Nigerianer, die bisher in Malvern, ebenfalls ein Vorort von Johannesburg, lebten. Fast alle mussten letzte Nacht von dort fliehen. Einige schliefen bei Freunden, andere in ihren Autos. Jemand erzählt, man habe seinen Wagen abgefackelt. "Ich rannte in einen Supermarkt, da gaben die Typen auf."

Was können sie jetzt tun, um sich zu schützen? Eine junger Nigerianer von etwa 30 nimmt sich viel Zeit, bevor er antwortet: "Können Sie sich vorstellen, wie dann Polizei, Presse und Regierung reagieren, wenn wir uns selbst verteidigen? Die Polizei hasst uns, die Zeitungen nennen uns Dealer, Fixer und Zuhälter. Und was denken die ganz gewöhnlichen Südafrikaner? Was denken die?" Plötzlich klingelt sein Telefon, alle schweigen, unser Mann nimmt ab, lauscht eine Weile und erzählt dann, der nigerianische High Commissioner würde für Ruhe und Besonnenheit plädieren.

Nicht jeder hat eine Decke

Am nächsten Tag besuchen wir die Germiston Town Hall, auch ein Asyl, vor allem für Kinder. Vor diesem Gebäude haben wir uns früher oft zur Demonstration am 1. Mai getroffen. Alles ist ein wenig heruntergekommen, schwitzende Wände, schwingende Türen, schwere Luft - der großen Saal ist ein einziger riesiger Schlafplatz. Mehr als 3.000 Menschen sollen es sein. Die meisten liegen apathisch und still auf ihren Matten, einige erzählen stockend Geschichten von Gewalt, Flucht und dem Gefühl, ganz allein ihrem Schicksal überlassen zu sein.

Nicht jeder hat eine Decke, es gibt nicht genug zu essen für alle. Statt verlässlicher Nachrichten kursieren böse Gerüchte. In einem großen Raum, der für Frauen reserviert ist, halten Mütter kleine Kinder in den Armen und warten auf Babynahrung und Windeln. Viele schweigen. Kein Lächeln, wenn man sie grüßt. Wir unterhalten uns kurz mit den städtischen Angestellten im Gebäude. Sie klagen über zu wenig Toiletten und zu kleine Küchen, aber sie arbeiten hart, anständig und sind hilfsbereit. Es sei doch wunderbar, helfen zu können, sagt einer. "Ich bin derart erschrocken, dass so etwas in dieser Gegend passieren konnte."

Viel wird augenblicklich spekuliert: Gibt es eine "dritte Kraft" im Land, einen organisierten Untergrund, der verantwortlich ist für die Ausschreitungen? Schließlich wirkten viele Aktionen in den Townships sehr koordiniert. Stets ziehen kleine Gruppen von Haus zu Haus, singen ähnliche Lieder, stellen die selben Fragen, plündern mit gleicher Inbrunst. Präsident Mbeki scheint die Möglichkeit eines gesteuerten Aufruhrs nicht mehr auszuschließen zu wollen - am 22. Mai bewilligt er den Einsatz der Armee.

Viele Kommentare klingen dieser Tage so, als würden es ihre Urheber für unerheblich halten, mit den Menschen in den Townships zu sprechen. Niemand kommt auf die Idee zu fragen, warum so wenig Frauen an den Übergriffen teilnehmen. Kaum jemand denkt laut darüber nach, was die Misshandlungen über die politische Kultur eines Landes sagen, das erst vor 14 Jahren das demokratische Wunder vollbrachte, sich ohne Blutvergießen von der Apartheid zu trennen, die doch so viel Blut vergossen hat. Warum gab es nie vergleichbare Exzesse gegen die Weißen? Was erzählen uns Mord und Vergewaltigungen über den Zustand dieser Gesellschaft? Und was über die verzweifelte Armut der Menschen?


(*) Die Zulu sind die größte Ethnie innerhalb der Bantu-Völkerschaften, aus denen sich die schwarze Bevölkerung Südafrikas vorwiegend zusammensetzt.

Steve Faulkner arbeitet als Journalist für die South African Municipal Workers Union (SAMWU) in Johannesburg und schreibt für gewerkschaftsnahe Zeitungen.

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