Abenteuerlich

KEHRSEITE Am See entlang laufen die drei Frauen zum Bahnhof. Mondlicht spiegelt im dunklen Wasser und sanfte Wellen plätschern an den Uferkies. Die drei haben ...

Am See entlang laufen die drei Frauen zum Bahnhof. Mondlicht spiegelt im dunklen Wasser und sanfte Wellen plätschern an den Uferkies. Die drei haben sich lange nicht gesehen, haben Wiedersehen gefeiert. Nun sind sie müde, alle wollen nach Hause.

Eine wohnt nur ein paar Ecken entfernt, sie wird zu Fuß gehen. Auch die zwei anderen haben es nicht weit, mit dem Auto würde es keine Viertelstunde dauern. Aber seit sie die Siebzig überschritten haben, setzt sich keine der Frauen mehr gern hinters Steuer. Vor allem nicht im Dunkeln. Deshalb gehen sie abends selten aus, heute ist eine Ausnahme.

Die im Nachbardorf wohnt, hat sich erkundigt: dorthin soll um diese Zeit ein Bus fahren. Die beiden Freundinnen begleiten sie zur Haltestelle, doch der Bus kommt nicht. Sie warten eine Weile vergeblich, bis sich herausstellt, dass der Bus sonntags nicht fährt. Ein Taxi löst das Transportproblem.

Die zwei anderen winken hinterher und gehen zum Bahnsteig, schauen auf den Fahrplan: der Zug ist angekündigt. Misstrauisch geworden suchen die Frauen nach einschränkenden Fußnoten, sie finden keine. Bleibt die Fahrkarte. Der Bahnschalter ist seit einigen Jahren nur noch zu auserlesenen Stunden geöffnet, und der frühe Abend gehört nicht dazu. Die Frauen gehen zum Automaten. Sie hatte ihren Sohn befragt, daher weiß die Reisende, welche Tasten und Nummern sie drücken muss: Erwachsener, einfache Fahrt, Nummerncode fürs Nachbarstädtchen.

Auf dem Display erscheint der Fahrpreis: 7,40 Mark. Das Fünfmarkstück fällt durch, ein zweites hat sie nicht dabei. Auch die Freundin hat keine Geldstücke in der Börse, leider. Nur einen Zwanzig-Mark-Schein haben die beiden Frauen und einen Automaten mit Münzschlitz. "Dann muss ich den Schein eben da hinein stecken", sagt die eine, faltet den Schein und schiebt ihn in die schmale Öffnung. Er rutscht ziemlich schlecht und die Freundin zweifelt, ob dies der richtige Weg ist. Doch einen besseren Vorschlag hat sie auch nicht.

Die erste wird langsam wütend: Sie ist in ihrem Leben noch nicht schwarz gefahren, sie wird nicht aufgeben. Sie nimmt alle Kraft zusammen und drückt den Zwanziger in den Automaten. Ein Fahrschein kommt nicht heraus, dafür erscheint auf dem Display in roter Farbe der Hinweis: "Außer Betrieb".

So fährt die Frau auf ihre alten Tage doch ohne Fahrschein. Verärgert steht sie am Bahnsteig, als der Zug kommt. Sie mahnt die Freundin, am nächsten Tag zum Schalter zu gehen, sich zu beschweren und das Geld zurückzuholen. Das war das letzte Mal, dass sie nachts mit der Bahn gefahren ist. Noch einmal wird sie sich diesem Abenteuer nicht aussetzen, das schwört sie.

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