Sommer am See

ORTE DER KINDHEIT In den großen Ferien sind wir mit der Mutter zu den Großeltern gefahren. Mein Bruder und ich freuten uns auf den Bodensee und die Freundin, die dort ...

In den großen Ferien sind wir mit der Mutter zu den Großeltern gefahren. Mein Bruder und ich freuten uns auf den Bodensee und die Freundin, die dort wohnte. Und auf den Fernsehapparat - den hatten wir zu Hause noch nicht.

Sommerferien waren eine unermesslich lange Zeit! Wenn nur die Fahrt zum Paradies nicht so beschwerlich gewesen wäre: vom Ruhrgebiet aus, mit dem Auto auf verstopften Autobahnen, im Schritttempo vorwärts, dem Hitzeflirren der Luft ausgesetzt, stundenlange Langeweile auf dem Rücksitz. Manchmal nahmen wir den Nachtzug, das war spannender. Das ungewohnte Rattern und die Vorfreude ließen uns kaum einschlafen, weckten uns nachts auf. Ich erinnere mich, wie ich einen Vorhangzipfel zur Seite schob, die Landschaft im Mondlicht vorbei gleiten sah, den Abenteuern entgegen fieberte.

In der Wohnung begrüßte uns die Großmutter: Sie hatte weiche rosige Wangen, kochte gut und gern, backte unzählige Kuchen und sang dabei vor sich hin. Sie verließ nur ungern ihr Küchenreich und konnte nicht einmal schwimmen. Die Außenwelt war dem Opa vorbehalten, einem liebenswerten Despoten, der sehr jähzornig sein konnte. Ich erinnere mich, dass er einmal aus Wut die schwere gusseiserne Gießkanne nach mir geworfen hat.

Meistens aber war er ein guter Großvater. Als er pensioniert war, radelte er mit uns Kindern auf Kieswegen in die Nachbardörfer und spendierte eine Cola vom Supermarkt. Oder ein Fürst-Pückler-Eis. Oder ein Tütchen Brausepulver, das waldmeistergrün oder himbeerrot auf der Zunge prickelte.

Aber am allerschönsten war das Baden im See. An besonderen Tagen sind wir weit am Ufer entlang zum Strandbad gewandert. Meterhohe Schilfstängel klickten im Wind aneinander und Schlick verbreitete zarten Modergeruch. Im Umkleidehaus mischten sich die Düfte von Holzschutzanstrich, Sonnencreme und Weidenkörben. Wir legten unsere Kleider ab und verriegelten die Tür mit dicken Vorhängeschlössern. Das Strandbad hatte einen breiten Wiesenstreifen, mehrere Spielgeräte und sogar einen Sprungturm.

Das Stadtbad war zwar nicht so komfortabel, aber dafür viel näher. Dort gab es eine strenge Teilung: Frauen durften Liegewiese und Umkleidekabinen links vom Eingang benutzen, Männer mussten sich auf der rechten Seite aufhalten, dazwischen bestand keine Verbindung. Mit der Mutter gingen wir Kinder zu den Frauen, und wenn uns der Opa mitnahm, besuchten wir das »Herrenbad«. Irgendwann in den sechziger Jahren gab es eine Sittenrevolution und jeden Samstag »Familienbad« im Männergelände.

Noch weiter rechts, hinter den »Herren« lag eine Zone, die auch uns Kindern verwehrt war: das Versehrtenbad. Dort badeten zu jener Zeit vor allem die, denen der Krieg Arme, Beine und Schönheit geraubt hatte.

Im Stadtbad habe ich schwimmen gelernt. Wir kraulten zum Floß, kletterten hinauf, ohne den Mövendreck zu beachten, und sprangen wieder in den See, unermüdlich und scheinbar unempfindlich gegen die Kälte. Die merkten wir erst, wenn uns die Erwachsenen gerufen hatten und wir zitternd auf den Holzpritschen hockten, in ein Handtuch eingewickelt, die Lippen ganz blau. Oder in Tüll gehüllt: Weil mein Opa in einer Wäschefabrik arbeitete, konnten wir dort günstig einkaufen und meine Mutter erwarb aus zweiter Wahl »Schleier« für uns Mädchen. So nannten wir die Reststücke von Stoffballen, zumeist pastellfarbene Nylonbahnen, die eigentlich für Unterröcke, Nachthemden oder Baby Dolls gewirkt worden waren. Mit diesen Tüchern tanzten wir über die Schwimmbadwiese, waren Nixen und Königinnen, Elfen und Zauberinnen.

Bei Schleiertänzen war mein kleiner Bruder Außenseiter - in anderen Spielen ergaben sich andere Koalitionen. Wir stritten und liebten uns, entdeckten unsere Körper. Ein beliebter Wettbewerb hieß: Wer hat die meisten Schnakenstiche? 35 Stück auf nur einem Bein waren rekordverdächtig. Schlimmer waren die Bremsen, die kurz vor Sonnenuntergang zum Großangriff übergingen. Oder »Hundsbladere«, ein juckender Ausschlag, der in den Zeiten ohne Ringkanalisation am See nicht selten war.

Hundsbladere gibt es am Bodensee heute nicht mehr. Auch meine Oma, meinen Opa nicht. Und das Gelände im Stadtbad ist zum allergrößten Teil für das gemeinsame Baden von Männern und Frauen freigegeben. Nur links außen schützt eine Hecke ein kleines Stück Liegewiese für Frauen, die unter sich bleiben wollen. Und ganz rechts, mit separatem Zugang und Parkplatz, ist weiterhin den Versehrten ein Platz zugedacht.

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