Man stelle sich einmal vor, die CDU würde im Bundestag über eine Zweidrittelmehrheit verfügen, Wahlgesetze und Parlamentsaufbau so verändern, dass der von ihr gestellten Regierung langfristig überproportional viel Macht garantiert sei.
Man stelle sich auch vor, in Deutschland wäre ein Gesetz verabschiedet worden, das den Staat dazu ermächtigte, auf Gelder, die von der öffentlichen Hand, also in Schulen, Krankenhäusern, Ministerien gezahlt werden, eine konfiskatorische Steuer von 98 Prozent zu erheben – rückwirkend auf fünf Jahre. Und man stelle sich außerdem vor, die Bundesregierung würde die Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts mit einer umgehenden Verfassungsänderung beschneiden, nachdem die Verfassungsrichter dieses Steuergesetz annulliert hätten.
Man stelle sich weiterhin vor, dass aufgrund der Zweidrittelmehrheit der CDU die Bundesregierung zahlreiche Arbeits-und Gewerkschaftsrechte eingeschränkt hätte, so dass Beamten in der Verwaltung und Angestellten im öffentlichen Dienst fortan ohne Angabe von Gründen gekündigt werden könnte.
Man stelle sich schließlich vor, dass ARD, ZDF oder der Deutschlandfunk in ihren Nachrichtensendungen kein Wort darüber verlieren dürften, wenn die oben genannten Maßnahmen vom Sprecher der französischen Regierung, den Außenministern Luxemburgs, Tschechiens und Belgiens oder EU-Institutionen kritisiert worden wären? Und dass die öffentlich-rechtlichen Medien auch nicht darüber berichten würden, wenn Zehntausende deutsche Bürger gegen ein restriktives Mediengesetz (das man sich mit wilder Fantasie in Deutschland nicht vorzustellen vergessen darf) vor dem Reichstag demonstrierten – begleitet von Protestbekundungen durch angesehene Menschenrechtsorganisationen und namhafte europäische Intellektuelle?
Von dieser kleinen Reise an die Grenzen der Imaginationskraft erschöpft, kann man sich wohl nur noch eines vorstellen: dass die oben angeführten Szenarien unvorstellbar sind. In Deutschland wie in allen anderen Mitgliedsstaaten der EU. Außer: in Ungarn. Dort braucht man auch keine Fantasie mehr aus dem einfachen Grund, weil das alles schon Wirklichkeit ist.
„Patriotische“ Investoren
Die regierungsnahen ungarischen Zeitungen, die Kommentatoren des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und insbesondere die Propagandisten der Fidesz-Partei beziehen sich mit ihrer Politik auf den Willen einer enormen Mehrheit der Wähler. Und sie verunglimpfen den Chor der einheimischen wie europäischen Kritiker als Verschwörung, zu der etwa Jürgen Habermas und der ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin gehörten, die in den vergangenen Tagen vor Ungarns Umgang mit missliebigen, schon vor 1989 nicht tolerierten, liberalen Regimekritikern wie Agnes Heller warnten.
Die Verunglimpfung ist älter als der Wahlsieg von Viktor Orbán. Die Schriftsteller Imre Kertész und György Konrád oder der in Florenz lebende Pianist András Schiff müssen sich seit langem mit regelrechten Kampagnen auseinandersetzen, in denen ihre kritische Haltung oft damit erklärt wird, dass sie als Juden keine aufrichtigen Gefühle für Ungarn hätten. Die Diffamierung von „Menschen nichtungarischen Herzens” ist in den regierungstreuen Medien salonfähig geworden – dazu qualifizieren allein Name und Abstammung.
Erst kürzlich erhielt Zsolt Bayer, ein Journalist, der stolz auf seine Freundschaft mit Regierungschef Orbán ist, eine Auszeichnung von einer Fidesz nahestehenden Stiftung für seinen herausragenden Patriotismus. Bayer ist Mitbegründer der Fidesz und arbeitet heute als Topkolumnist für die Tageszeitung Magyar Hírlap, wo er sich als populärer Hassprediger profiliert. In einem Kommentar beschimpfte er unflätig Daniel Cohn-Bendit und Journalisten mit jüdischen Familiennamen; Bayer bedauerte, dass bei den Pogromen nach dem Ende der Räterepublik 1919 in Ungarn nicht ausreichend Genickschüsse abgegeben worden seien. Regierungspolitiker und öffentlich-rechtliche Medien berufen sich angesichts solch einer Rhetorik des Hasses auf die Pressefreiheit.
Dass es sich bei dieser Pressefreiheit um einen schlechten Witz handelt, muss man nicht erklären. „Es herrscht in Ungarn inzwischen hauptsächlich unter den Journalisten der öffentlich-rechtlichen Medien eine Atmosphäre der Selbstzensur“, sagt ein Redakteur des Ungarischen Rundfunks, der anonym bleiben möchte: „Niemand erteilt uns Befehle, trotzdem treibt uns eine innere Angst davor, die eigene Existenz aufs Spiel zu setzen, wenn wir in politischen Sendungen ‚zu objektiv‘ sind.” Solche Überlegungen bewegen auch die Journalisten der unabhängigen und regierungskritischen Privatsender und Zeitungen wie dem Klubrádió oder der größten Tageszeitung des Landes, der linksliberalen Népszabadság zu leisen Tönen. „Der Grund ist einfach”, sagt der populäre Blogger und Radiomoderator Iván Andrasew. „Werbungezeiten und Anzeigen werden abgesagt, sogar multinationale Konzerne fürchten sich vor den Auseinandersetzungen mit der Regierung. Sie schalten ihre Annoncen stattdessen lieber in der regierungstreuen ungarischen Presse, um sich als ‚patriotischen‘ Medieninvestoren zu beweisen.”
Der gute Staat
Demnächst möchte die Orbán-Regierung eine groß propagierte Steuerreform einführen, die eine einheitliche Einkommensteuer von 16 Prozent und eine einheitliche Körperschaftssteuer von zehn Prozent vorsieht. Das Ziel ist die Ankurbelung der Nachfrage, deren Erreichen von Ökonomen in Zweifel gezogen wird – die Schicht derjenigen, die von der wirtschaftsfreundlichen Maßnahme profitieren könnten, ist in Ungarn dünn. Um die fiskalpolitische Änderung überhaupt finanzieren zu können, müssen aber die großen, hauptsächlich ausländischen Konzerne im Telekommunikations-, Einzelhandels-und Energiesektor (Telekom, RWE, E.ON) eine für 2010 rückwirkend geltende Krisensteuer berappen. Andere Wirtschaftssektoren, die durch die Krisensteuer noch nicht geschlagen sind, vermeiden aus Furcht vor den Abgaben jeden potenziellen Konflikt mit der Regierung. So funktioniert die Selbstzensur über die Bande des Ökonomischen: „Wer es sich mit der Regierung nicht verscherzen will, wird in regierungskritischen Medien nicht werben”, sagt Andrasew.
Die Krisensteuern für die Banken und Konzerne, die in Wirklichkeit nur Löcher im Staatsbudget stopfen, kamen bei den Wählern gut an. „Sogar die Quasi-Enteignung der privaten Rentenversicherungen ist für die meisten Ungarn kein Problem, solange ihnen nur jemand erzählt, dass Ihre Rente gesichert sei”, behauptet der Politologe László Kéri, der an der Uni Professor Viktor Orbáns war und heute zu seinen größten Kritikern gehört.
Dass die meisten Ungarn glauben, was ihnen die Propaganda weismacht – 57 Prozent der Befragten einer kürzlich gemachten Umfrage sehen die ungarische Pressefreiheit angeblich nicht in Gefahr –, führt wiederum zurück ins Reich der Imaginationen. Die Vorstellungskraft ist die einzige Kraft, die ein Großteil der Ungarn noch aufzubringen mag angesichts der virulenten Probleme des Landes. Orbáns Regierung und deren mediale Apologeten verstehen es, der ungarischen Bevölkerung die Sorgen um eine drohende Inflation oder Arbeitslosigkeit durch nationalistisches Getöse zu nehmen.
Die Kassierung der privaten Rentenversicherungen wurde etwa legitimiert durch den guten Staat, der sich anstelle „unpatriotischer“ Firmen um die Vorsorge kümmere. Die Politik der nationalen Spaltung betrifft lange nicht mehr allein die Schwächsten im Land, die Roma; derweil ist die politische Opposition völlig diskreditiert. Orbán verdankt seine Stärke den darniederliegenden Sozialisten, deren korrupte Vorgängerregierung in den Darstellungen der Fidesz-Propaganda erfolgreich den Eindruck vermittelt, als habe sie das Monopol auf Korruption in der ungarischen Politik gepachtet.
In der fehlenden Opposition und der Aura einer kollektiven Passivität sieht der in Berlin lebende, ungarische Schriftsteller und Freitag-Herausgeber György Dalos – der auch Unterzeichner einer Protestnote osteuropäischer Dissidenten gegen das ungarische Mediengesetz ist –, das größte Problem: „Gefährlicher als die Rechte selbst ist die Apathie der Gesellschaft. Gerade dadurch wird Ungarn zu einer schwachen Demokratie auf niedrigstem Niveau.”
Das muss man sich einmal vorstellen.
Susanne Dahl ist Journalistin in Budapest, der Name ein Pseudonym. Aus Vorsicht. Der Protest der Dissidenten findet sich unter iprotest.hu
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