Mit Metaphern ist es ja so eine Sache. Hat man sie einmal eingeführt, wird man sie mitunter nicht mehr so schnell los: Die Gebärmutter sei die perfekte Wohnung für ein Baby. Jeden Monat werde sie neu hergerichtet, erklärt Frauenärztin Inga Joussen den zyklischen Aufbau der Gebärmutterschleimhaut. Zehn Mädchen der sechsten Klasse einer Kreuzberger Schule sitzen im Stuhlkreis um die junge Frau. Kein Kaugummischmatzen, kein Stuhlwippen, konzentriertes Zuhören. „Hat die Wohnung auch einen Fernseher?“, fragt ein Mädchen mit schwarzem Haar. „Nein“, entgegnet Joussen, ohne eine Miene zu verziehen.
Joussen ist eine von 91 Ärztinnen der „Ärztlichen Gesellschaft zur Gesundheitsförderung der Frau“ (ÄGGF), die bundesweit vorwiegend Mädchen, aber auch Jungen aufklären. An diesem Herbsttag überschütten die Schülerinnen sie geradezu mit Fragen: Zerquetschen kräftige Männer die Eizellen der Frauen, wenn sie mit ihnen schlafen? Was kann man gegen Bauchschmerzen während der Regel tun? Wie kommt Krebs in die Gebärmutter?
Seit Jahrzehnten ist Sexualerziehung an deutschen Schulen Pflicht. Umfang und Inhalt schwanken aber je nach Bundesland. Und oft beschränken sich Lehrer immer noch auf einen biologisch-anatomischen Frontalunterricht. Da werden die Fachbegriffe für die Geschlechtsorgane vorgestellt, Geschlechtskrankheiten, allen voran AIDS besprochen, und es wird erwähnt, wie man sich schützt. Sexualerziehung folgte lange dem amerikanischen Modell, sagt Olaf Kapella vom Institut für Familienforschung der Universität Wien. „Die Botschaft lautete: ‚Pass auf, dass du nicht schwanger wirst und hol dir keine Krankheit‘“.
Mehr als Wissensvermittlung
Doch Sexualerziehung ist nicht nur Wissensvermittlung. Gisela Gille, langjährige Vorsitzende der ÄGGF, wurde das klar, als die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche der unter 18-Jährigen Anfang der Nullerjahre mit fast 8.000 pro Jahr einen Rekord erreichte. Wenig später stellte die Organisation zudem fest, das jedes zehnte Mädchen im Alter von 17 Jahren in Berlin mit Chlamydien infiziert ist. Diese Bakterien werden beim Geschlechtsverkehr übertragen und können unfruchtbar machen. Die Jugendlichen schützten sich offenbar nur unzureichend mit Kondomen.
Gille sieht dahinter einen gravierenden Missstand: Die Jugendlichen hätten zwar vielerlei Informationen über Sexualität, die aber wenig mit umfassendem Informiertsein zu tun hätten. „Sie wissen, wie man in den kuriosesten Stellungen zum Orgasmus kommt. Aber sie sind sich unsicher, ob man vor dem Wasserlassen den Tampon entfernen muss.“ Sie könnten das erlernte Wissen aus dem Bio-Unterricht nicht mit der eigenen Sexualität und dem eigenen Körper in Beziehung setzen, weil die emotionale Ebene fehle.
Genau diese ist den Ärztinnen ein besonderes Anliegen: Sie gehen in Schulen, nicht ohne didaktisches Konzept, aber am liebsten beantworten sie nur die Fragen der Mädchen. Die Nachfrage wächst von Jahr zu Jahr. 2012 führten sie mehr als 8.000 Veranstaltungen durch. Und siehe da: Seit dem verstärkten Engagement außerschulischer Aufklärerinnen ist die Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen Minderjähriger in Deutschland zurückgegangen. „Das ist nicht zuletzt unser Verdienst“, sagt Gille. Aber auch andere Organisationen, etwa der gemeinnützige Verein MfM und Pro Familia, bieten inzwischen Sexualerziehung im Klassenzimmer an, die nicht im Stile eines Frontalunterrichts daherkommt.
Die externen Aufklärer haben andere Möglichkeiten als Lehrer: „Es ist sehr schwierig, Jungen und Mädchen gleichermaßen gerecht zu werden“, sagt Gille. Die Mädchen seien in ihrer Entwicklung etwa zwei Jahre voraus. Sobald sie beispielsweise anfingen, über ihre Menstruation zu sprechen, würden die Jungen kichern. Die Mädchen verstummten dann. Getrennt nach Geschlecht ließe sich dagegen eine ernsthafte Atmosphäre aufbauen.
Die Mädchen werden schnell zutraulich
Wie wichtig dieser geschützte Rahmen ist, wird an dem Herbstmorgen in Kreuzberg schnell deutlich. Die Mädchen werden im Verlauf der Doppelstunde zutraulicher, ihre Fragen intimer. Eine 12-Jährige in engen Jeans und T-Shirt erzählt von „komischen Streifen“ auf der Brust, seitdem sie die Regel habe. „Soll ich die Streifen mal zeigen?“ Das sei nicht nötig, entgegnet Joussen. Die Streifen seien harmlos und träten auf, wenn Gewebe sehr schnell wachse. „Es wäre undenkbar, über solche Veränderungen am Körper zu sprechen, wenn Jungs im Klassenzimmer säßen“, ist sich Joussen sicher.
Die Schülerinnen nehmen die Antworten sehr ernst, weil „sie Frau Doktor ist“, wie ein Mädchen sagt. Einer britischen Untersuchung zufolge ist die Aufklärung durch junge Ärztinnen, Hebammen und Krankenschwestern besonders effektiv. Die Schülerinnen trauen sich, die Ärztin mehr zu fragen, gerade weil sie fremd ist und kein Vertrauensverhältnis wie zu einem Lehrer besteht. Als Joussen beispielsweise dazu rät, eine Binde in die Schultasche zu packen, um für die Menstruation gewappnet zu sein, entfährt es einem Mädchen mit Haarspange: „Oh nein“. „Das ist dir peinlich“, sagt Joussen und rät dann: Man könne die Binde doch in eine extra Tupperdose legen, getarnt als Pausenbrot. Unter dem Pulli ließe sich die Binde dann unbemerkt in die Toilette schmuggeln.
Eltern sind oft nicht hilfreich
„Ich kann mit meiner Mutter nicht darüber reden“, sagt das Mädchen. Damit sei sie nicht allein, beruhigt Joussen. Die Mutter habe vermutlich selbst nie mit ihren Eltern über Sexualität reden können und traue sich daher womöglich nicht. Die Ärztin ermuntert die Schülerin, ihre Mutter vor dem Schlafengehen anzusprechen, wenn es im Zimmer dunkel ist.
Nach einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung klären heute zwar rund zwei Drittel der Eltern ihre Kinder auf. Ihre Antworten sind allerdings nicht immer richtig – und nicht immer hilfreich. Gille berichtet von einem Mädchen, dessen Mutter bei Einsetzen der Periode sagte: „Ach, du Schreck, jetzt bist du auch mit dem Mist dran.“
In der Gesprächsrunde mit Joussen erzählt ein muslimisches Mädchen, ihre Mutter erlaube Tampons erst ab 20 Jahren, da sonst die Jungfräulichkeit verloren ginge. Die Frauenärztin schüttelt den Kopf und erläutert, dass das Jungfernhäutchen durch das Hygienemittel nicht zerstört werde. „Bei den meisten Mädchen platzt beim ersten Geschlechtsverkehr auch nichts“, fügt Gille hinzu. „Das Bett ist bei vier von fünf Frauen beim ersten Mal auch nicht blutbefleckt.“
Die Mädchen schauen ein wenig betroffen, als Joussen die Form des Jungfernhäutchens als ringförmigen Saum beschreibt. Dieser würde auch nicht reißen, wenn man mit dem Finger die Scheide abtastet, sagt sie. Ein entsetztes „Iiii“ geht durch die Runde. Anfassen, den eigenen Körper an jenem heiklen Ort, das können sich einige Mädchen nicht vorstellen.
Wertschätzung mehr thematisieren
Die Ärztinnen der ÄGGF beklagen eine verbreitete Ablehnung des weiblichen Körpers, nicht nur des Genitals. „Vieles an ihrem Körper finden Mädchen eklig. Es kommen immer wieder Sprüche wie ‚Ich bin so fett. Ich könnte mich in die Tonne kloppen.‘“, erzählt Gille. „Wenn die Mädchen keinen Stolz auf ihren eigenen Körper entwickeln, wie wollen sie dann gegenüber einem Mann auf einem Kondom bestehen, der sagt ‚Das turnt mich ab‘? So etwas lernt man nicht im Biounterricht.“
Die Wertschätzung des eigenen Körpers müsse mehr thematisiert werden. Denn nur wenn eine Frau sich selbst schätzt, kann sie sich schützen, sagt Gilles. Die Sexualerzieher müssen, wollen sie erfolgreich sein, mit der Zeit gehen. Die Sexualität wandelt sich. Viele Kinder sind mit Pornos vertraut; Küssen, Petting und allerlei Sexualpraktiken sind für sie schon in jungen Jahren normal. Olaf Kapella fordert daher: „Man sollte über Pornos kritisch sprechen, auch wenn die Kinder nicht danach fragen.“ Warum haben die Menschen in den Filmen so glatte Haut? Für wen sind die Videos gemacht? „Da ist viel aufklärerische Arbeit nötig. Nicht alle Frauen finden es toll, mit Sperma bekleckert zu werden. In Pornos wird aber dieser Eindruck erweckt“, nennt Kapella ein Beispiel. „Die Jugendlichen heute starten mit einem erheblichen Druck, da die Medien ihnen standardisierte sexuelle Verhaltensweisen als normal vorgeben“, stimmt Gille zu.
Darüber sprechen, bemerkt sie selbstkritisch, auch die Sexualerzieher bisher noch zu selten.
Susanne Donner schrieb im Freitag zuletzt über psychische Probleme bei Migranten
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