Kinderbetreuung
Natürlich muss man es nicht gut finden, dass in der DDR vor allem deshalb so viele Krippen und Kindergärten geschaffen wurden, um den Arbeitskräftebedarf zu befriedigen. Und auch die Tatsache, dass es für diese Einrichtungen einen eindeutigen staatlichen Erziehungsauftrag zur „sozialistischen Persönlichkeit“ gab, sollte man sich nicht zurückwünschen.
Aber dass es für 80 Prozent der unter Dreijährigen und 95 Prozent der Kindergartenkinder ein – im Übrigen keineswegs verpflichtendes – Betreuungsangebot von 6 bis 18 Uhr gab, selbstverständlich mit warmem Mittagessen und ohne Schließzeiten während der Ferien, treibt Müttern, die sich heute in Dresden, Jena oder Berlin verzweifelt in ellenlange Wartelisten eintragen, allemal die Tränen in die Augen. Und auch der damalige Betreuungsschlüssel von 1:5 gilt selbst der heutigen Bundesregierung als „geradezu paradiesisch“. Sie kam in einer Broschüre zu dem Fazit: „Kleine Gruppen wurden von gut ausgebildeten und geschulten Erziehern im Wesentlichen kostenlos betreut. Es gab genügend Betreuungsplätze. Die Ausstattung der Krippen und Kindergärten war ebenfalls sehr gut.“
Und anders als die Horrorbilder über die sogenannte „Fremdbetreuung“, die vor allem im Westen des Landes noch immer gern gezeichnet werden, führte die frühe Betreuung eben nicht zu bindungslosen und seelisch verkümmerten Kindern: So stellte die Entwicklungspsychologin Lieslotte Ahnert in den achtziger Jahren in ihrer Ostberliner Krippenstudie fest, dass die Mütter im Osten zu ihren Kindern ebenso gute Beziehungen hatten wie die Frauen im Westen; man habe die öffentliche Betreuung in der DDR als „familienergänzende und nicht familienersetzende Betreuung betrachtet“.
Für die Sozialisation der Kinder allerdings war die Selbstverständlichkeit, dass auch Mütter erwerbstätig waren, entscheidend: Bis heute ist das Modell der Versorgerehe den meisten Ostdeutschen ziemlich fremd – die neuere Rechtsprechung, die davon ausgeht, dass es Frauen nach einer Scheidung zuzumuten ist, für ihren Unterhalt selbst zu sorgen, stößt hier daher auf ein gewisses Achselzucken.
Scheidungsrate
Die DDR hatte die höchste Scheidungsrate der Welt. Aber das ist nur auf den ersten Blick eine schlechte Nachricht: In Wahrheit nämlich waren die Frauen in einem großen Umfang ökonomisch unabhängig. Sie gingen einfach, wenn sich die Sache mit der Liebe erledigt hatte.
Muttermilch-Sammelstellen
Über das Ampelmännchen und den grünen Pfeil wussten irgendwann alle Bescheid. Aber wer hat je von Muttermilch-Sammelstellen gehört? Die gab es lange Zeit im ganzen Land, 1919 von der Magdeburger Kinderärztin Marie Elise Kayser ins Leben gerufen. Sie sammelte überschüssige Milch, um damit Frühgeborene und kranke Babys versorgen zu können. Gerade die Allerkleinsten brauchen die Frauenmilch am dringendsten: Die enthält neben wichtigen Nährstoffen auch Enzyme, Hormone und Antikörper, die das Immunsystem stärken und keiner künstlichen Nahrung beigemischt werden können. Viele Frauen aber sind nach einer Frühgeburt noch nicht sofort in der Lage zu stillen, weil ihr Körper nicht vorbereitet ist.
Das System fand zuerst allerorten Anwendung – weil man aber zu der Ansicht gelangte, eine künstliche Ernährung der Frühchen über den Blutkreislauf sei kostengünstiger, wurden die Muttermilchbanken in Westdeutschland in den siebziger Jahren aufgegeben. Anders in der DDR: Hier waren Städte mit mehr als 50.000 Einwohnern verpflichtet, solche Sammelstellen einzurichten und so wurden laut offiziellen Angaben allein im Jahr 1989 mehr als 200.000 Liter Muttermilch gespendet.
Nach der Wende blieben nur zehn der einstmals 30 Sammelstellen erhalten: in Chemnitz, Cottbus, Dresden, Eisenach, Frankfurt/Oder, Görlitz, Leipzig, Jena, Neubrandenburg und Potsdam. Und nun auch in München: Seit einem Jahr gibt es im Perinatalzentrum Großhadern der Universität München eine Frauenmilchbank. Man habe erkannt, so der Leiter der Neonatologie, Andreas Schulze, dass die Ernährung mit Muttermilch die für Frühchen so gefährliche Darmentzündung verhindern könne und künstliche Milch in ihrer Qualität nicht an die Frauenmilch heranreiche. Auch in anderen Ländern setze sich diese Einsicht mehr und mehr durch.
Impfpflicht
Wer als Mutter mit einem Neugeborenen heutzutage eine Kinderarzt-Praxis betritt, gerät über kurz oder lang in eine Situation purer Überforderung: „Sollen wir den Fünf- oder Sechsfachimpfstoff nehmen? Auch gegen Pneumokokken? Und wie halten Sie es eigentlich mit Masern und Windpocken?“
Ja, wie eigentlich?
Tue ich meinem Kind etwas Gutes, wenn ich mich an die Empfehlungen der Ständigen Impfkomission halte, oder sollte ich mich doch so lange im Internet in Foren über die Risiken der einzelnen Wirkstoffe informieren, bis ich der Meinung bin, dass keine Nadel auch nur in die Nähe meines Nachwuchses kommen darf? Fragen über Fragen, auf die es in der Regel vom Arzt nur eine lapidare Antwort gibt: „Das müssen Sie selbst entscheiden!“
Solche Fragen mussten sich Eltern in der DDR nicht stellen: Es herrschte Impfpflicht, die zu Impfraten von über 90 Prozent führte. Alles wurde akribisch dokumentiert, außerdem gab es für Infektionskrankheiten eine Meldepflicht.
Nach der Wende sank die Impfrate zwar auch im Osten, blieb aber im Vergleich zum Westen deutlich höher. Sehr zum Leidwesen von Fachleuten: Die Impfmoral in vielen westdeutschen Städten sei eine „Katastrophe“, sagt Gerhard Gaedicke, der ehemalige Direktor der Kinderklinik der Charité in Berlin und jetzige Leiter des Departments Kinder- und Jugendheilkunde in Innsbruck.
Während etwa in Mecklenburg-Vorpommern rund 94 Prozent aller Schulanfänger wie empfohlen zweimal gegen Masern geimpft sind, sind es in Bayern nur knapp 85 Prozent. Dabei ist diese Krankheit vor allem für Säuglinge extrem gefährlich. Babys dürfen nicht geimpft werden und müssen deshalb durch eine hohe Impfrate in der Bevölkerung geschützt werden. Schon lange fordert deshalb der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte eine Impfpflicht für Kinder in Betreuungseinrichtungen – wie in der DDR.
Und auch jenes Vorurteil, nach dem Impfungen Allergien und Unverträglichkeiten aller Art Vorschub leisten, darf heftig bezweifelt werden: Trotz ihrer viel höheren Durchimpfungsraten litten die Ostdeutschen deutlich seltener unter allergischen Erkrankungen als die Westdeutschen.
Lehrermangel
Einer der schönsten Witze ging so: „Haben Sie keine Fahrräder?“, fragt ein Mann in einem Möbelgeschäft. „Da sind Sie bei uns verkehrt“, antwortet ihm die Verkäuferin, „keine Fahrräder gibt es nebenan. Bei uns gibt es keine Möbel.“
In Sachsen müsste man die Geschichte heute so erzählen: Keine Lehrer gibt es an den Förderschulen und nebenan, an den Grundschulen, sind sie demnächst auch aus. Fast drei Viertel der aktiven Pädagogen werden bis 2030 in den Ruhestand gehen – und weil nicht genügend neue ausgebildet werden, ist unklar, woher der Nachwuchs im Freistaat kommen soll. Erheblicher Unterrichtsausfall ist die Folge. Man habe, so erinnert sich die SPD-Politikerin und ehemalige sächsische Wissenschaftsministerin Eva-Maria Stange, „auch in der DDR immer wieder Bedarf vor allem an Lehrern in den naturwissenschaftlichen Fächern gehabt, aber so einen Engpass wie heute gab es nie“.
Der Planwirtschaft sei Dank: Immer wenn Pädagogen knapp wurden, richtete man Schnellläufer-Klassen mit verkürzter Ausbildungszeit ein. Umgekehrt versuchte man, durch gedrosselte Zulassungen zum Diplomlehrerstudiengang und längere Ausbildungszeiten einem Überschuss entgegenzuwirken. Doch auch nachdem in den siebziger Jahren die Schülerzahlen sanken, wurden keine Lehrer entlassen. Das führte zu kleineren Klassen und günstigeren Lehrer-Schüler-Relationen.
Soziale Gleichheit
Die meisten, die der DDR hinterhertrauern, meinen, dass die soziale Gleichheit früher größer gewesen sei. Man habe in einer gerechteren Gesellschaft gelebt, sagen sie.
Doch Studien wie die des Historikers Klaus Schroeder belegen: Auch im sozialistischen Staat waren die Einkommen stark ungleich verteilt. So verfügten etwa zehn Prozent der Konteninhaber über 60 Prozent des Geldvermögens. Auch die vielzitierte Gleichberechtigung hält einer näheren Betrachtung nur bedingt stand: So gab es durch die verbreitete Frauenerwerbstätigkeit zwar tatsächlich kaum jene im Westen so verbreitete traditionelle Rollenverteilung, bei der der Mann fürs Geld und die Frau für die Familie zuständig war.
Tatsächlich aber waren im Jahr 1989 zwar 91 Prozent der ostdeutschen Frauen berufstätig, von politischer Macht und betrieblichen Leitungsfunktionen aber blieben sie – wie in fast all den 40 Lebensjahren der DDR – ausgeschlossen. Je höher die Hierarchie, desto stärker nahm der Anteil an Frauen ab. Kontinuierlich.
Einen Vorteil aber hatte die proklamierte Emanzipation: Den Begriff Rabenmutter mussten sich arbeitende Mütter in der DDR immerhin nicht gefallen lassen.
Polytechnischer Unterricht
Nein, Sternstunden im Leben als Schüler waren die Fächer „Einführung in die sozialistische Produktion“ und „Produktive Arbeit“ ganz sicher nicht. Wer im wöchentlichen Wechsel in irgendeinem Betrieb stundenlang feilen, bohren oder Kabel montieren musste oder in sozialistischer Wirtschaftslehre unterwiesen worden war, der wünschte sich wenigstens an diesem Tag ein Dasein als arbeitsloser Klassenfeind. Doch das Modell, Schülern Berufspraxis zu vermitteln und eine Brücke zwischen Theorie und Praxis zu schlagen, hat wieder Konjunktur. Davon zeugen unzählige Partnerschaften zwischen Schulen und Betrieben, die vor allem von den Industrie- und Handelskammern forciert werden. Nur das schöne Wort Patenbrigade gibt es dafür nicht mehr. Eigentlich schade.
* Ostdeutsch für: Mitarbeiter des Monats Susanne Kailitz schrieb im Freitag zuletzt die Titelgeschichte „Auf der Couch. Warum immer mehr Ostdeutsche zum Therapeuten gehen“
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