Ob Stammzelldebatte, Präimplantationsdiagnostik oder Hirnforschung - in den vergangenen Jahren haben Philosophinnen und Philosophen in den öffentlichen Debatten um die Konsequenzen der Biowissenschaften in erstaunlichem Ausmaß Gehör gefunden. Vor allem die so genannte Bioethik, in diversen Ethikräten und -kommissionen institutionalisiert, ist dabei prominent geworden. Viele der gegenwärtig kursierenden Argumentationsmuster sind jedoch nicht neu, sondern seit den sechziger Jahren immer wieder im Kontext biomedizinischer und biowissenschaftlicher Fragen bedient worden. Zudem gehen die philosophischen Auseinandersetzungen um die Life Sciences weit über den engen Bereich der Bioethik hinaus. Bisher hat man allerdings nur wenige Aspekte der gegenwärtigen Veränderungen in den gesellschaftlichen Naturverhältnissen thematisiert. Es fehlen philosophische Überlegungen zur Entstehung globaler Bio-Ökonomien, die Mikroentitäten wie Gene, Zellen und Gewebe von Menschen, Tieren und Pflanzen in den Mittelpunkt rücken. Die dominanten philosophischen Konzepte tendieren derzeit eher dazu, diese Transformationsprozesse zu "entnennen" als sie einer kritischen Reflexion zugänglich zu machen.
Der Lebenswert in der Beratungsbranche
Die Bioethik entstand im Zusammenspiel der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre, die auch das Arzt-Patient-Verhältnis problematisierte, und den neuen medizin-technologischen Möglichkeiten wie Reproduktionstechnologien und Transplantationsmedizin. Als Bereichsethik befasst sie sich, wie es im Lexikon der Bioethik heißt, mit allen Fragen, die "den Umgang des Menschen mit Leben" betreffen. Was allerdings dieses "Leben" ist und wie es dazu kommt, dass Schwangere, behinderte Neugeborene, KomapatientInnen, Embryonen und Zellen gleichermaßen als "Leben" schlechthin gelten, wird nicht gefragt. Stattdessen übernimmt Bioethik den Blick von Medizin und Biowissenschaften auf ihre Gegenstände und unterwirft sie einer Klassifizierung. Die entscheidende Frage, so formulierte es Michael Tooley 1972, ist dabei, welche Eigenschaften "ein Ding" haben muss, um ein wirkliches Lebensrecht zu besitzen. Statt zu fragen, welche gesellschaftlichen Praxisformen im Umgang mit Erfahrungen wie Tod, Geburt, Sterblichkeit, Krankheit und Schmerz zu entwickeln wären, geht es in dieser Logik um eine Klassifikation von Dingen. Auch die Stammzelldebatte der vergangenen Jahre war dieser "verdinglichenden" Frage-Anordnung unterworfen.
Diese Art der Fragestellung entspricht dem utilitaristischen Standpunkt, der sich an einem Kosten-Nutzen Kalkül orientiert, in dem die Rede vom "Wert" des Lebens immer auch wörtlich, also ökonomisch gemeint ist. Um diese Logik der ökonomischen und technologischen Vernutzung zurückzudrängen, arbeiten Kantianische Positionen mit dem Begriff der Würde. Das ist nicht falsch, doch beinhaltet diese Kritik bereits ein Zugeständnis an den Utilitarismus: Mit der Reklamation von Menschenwürde - etwa des Embryos - wird eine Ausnahme behauptet, die eine In-Wert-Setzung von menschlichen Körpern und Körpersubstanzen voraussetzt. Schließlich hieß es schon bei Kant, im "Reich der Zwecke" habe alles "entweder einen Preis oder eine Würde". "Was einen Preis hat", so Kant, "an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde".
"Würde" zu haben ist somit die Ausnahme, die allgemeine Tauschverhältnisse voraussetzt. Hier haben die kantianischen Positionen ihren blinden Fleck, sie blenden aus, dass die ökonomische Logik tatsächlich in Körper und Naturbereiche vordringt, die bisher von ihr ausgenommen waren. Dieser Prozess der In-Wert-Setzung ist das, was in den politisch-ethischen Debatten um die Biowissenschaften auf dem Spiel steht und als solcher benannt werden sollte. Als eine um die gesellschaftstheoretischen Dimensionen verkürzte Bereichsethik allerdings verfehlt die Bioethik weitgehend ihr Ziel, Handlungsorientierungen unter sich verändernden wissenschaftlichen und technologischen Bedingungen zu geben. Sie arbeitet zwar der Gesetzgebung zu - doch was an den Fragen, die sie behandelt, nicht in die juristische Form passt, bleibt unbearbeitet.
Wem gehört der Code?
Ganz anders stellt sich das Problem im Umkreis des Poststrukturalismus dar. Ebenfalls recht früh, Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre, setzte in der französischen Philosophie eine Auseinandersetzung mit den Biowissenschaften ein, insbesondere mit der Genetik und ihrer technischen Bezugsdisziplin, der Kybernetik - das heißt der Wissenschaft von Nachrichten und Regelungsnachrichten. Die Schriften der Molekularbiologen François Jacob und Jacques Monod, die 1965 zusammen mit André Lwoff für ihre Arbeiten den Nobelpreis erhielten, wurden breit rezipiert. Ihre Spuren finden sich sowohl in der 1967 erschienenen Grammatologie von Jacques Derrida als auch bei Gilles Deleuze und Félix Guattari. Und Foucault, der das Buch Die Logik des Lebenden von Jacob 1970 begeistert rezensierte, war überzeugt, dass "vor unseren Augen die Grundlegung einer ebenso wichtigen und revolutionären Theorie wie dies zu ihrer Zeit die Theorien von Newton oder Maxwell waren" vonstatten gehe.
Im Gegensatz zur Bioethik gibt es hier nicht den Anspruch, politisch-ethische Vorgaben für den Umgang mit den Biowissenschaften zu formulieren. Das Problem besteht bei den poststrukturalistischen Autoren vielmehr in einem Konzepttransfer, der Elemente aus unterschiedlichen Disziplinen und Wissensbeständen miteinander kurzschließt. In den so genannten "Wissenschaftskriegen" der neunziger Jahre, ist dies von den Physikern Alan Sokal und Jean Bricmont als "eleganter Unsinn" bezeichnet worden. Das mag von einem naturwissenschaftlichen Standpunkt aus plausibel sein, geht aber an der Sache vorbei. Denn das Interessante ist hier nicht der naturwissenschaftliche "Unsinn", sondern vielmehr der kulturelle Sinn, der sich an das biowissenschaftliche Wissen heftet.
Gleichwohl: Für einen kritischen Umgang mit Wissenschaft und Technologie ist diese Art der Aneignung wissenschaftlicher Theoreme kaum geeignet. Dies zeigt sich vor allem bei Gilles Deleuze und Félix Guattari. "Code/Decodierung" sind bei ihnen zentrale Begriffe. Dabei spielen sie das informationstheoretische Konzept des Codes gegen das Konzept des genetischen Codes aus. Während der Code der Informationstheorie auf starre Binarität verweist, steht der genetische Code ihnen zufolge für dynamische Pluralität. Jede verfestigte Struktur löst sich auf in Prozesse der Entstrukturierung, der "Decodierung". Die der Biologie entlehnten Vorstellungen von Variation, Mannigfaltigkeit und Dynamik übertragen Deleuze/Guattari ins Sozialpolitische. Klassengegensätze und Geschlechterdifferenz sind für sie binäre, "molar" verfestigte Konstruktionen. Stattdessen sprechen sie lieber von "Massen" und "vielfachen molekularen Kombinationen", "tausend kleinen Geschlechtern". Binarität, Statik und verfestigte Formen gesellschaftlicher Ungleichheit stehen einer positiv konnotierten Mannigfaltigkeit gegenüber. Dass diese Rezeption der Genetik höchst selektiv ist und sich von einer kritischen Auseinandersetzung mit der Molekularbiologie radikal unterscheidet, ist dabei offensichtlich. Schließlich ist die Aufnahme molekularbiologischer Konzepte von vornherein durch jene Problemkonstellationen bestimmt, die das philosophische Feld Frankreichs in den sechziger und siebziger Jahren kennzeichneten, also allen voran die Kritik des Strukturalismus. Immer wieder greifen Deleuze und Guattari vor allem jene Elemente aus der Biologie - der Genetik, der Mutationstheorie und der Virologie - auf, die auf Pluralität, Non-Linearität und Dynamik verweisen, und die somit für sie philosophisch anschlussfähig sind. Auch wenn ihre Position anti-essentialistisch ist; anti-biologistisch ist sie nicht. Schließlich ist es nun eine dynamisch-flexible und vielfältige Natur, die bestimmt, wie über Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu sprechen ist.
Kant, mit Darwin versöhnt
Eine weitere Entwicklung der letzten Jahre, die man durchaus "neo-biologistisch" nennen kann, ist die Renaissance der Philosophischen Anthropologie. Der Mensch tritt hier als "Aggressor, Fürsorger und Bedürfniswesen" (Ludger Honnefelder) auf, dessen Handeln durch "stammesgeschichtlich ererbte Antriebe prädisponiert" ist. Verhaltens- und Evolutionsbiologie liefern die Fundamente, auf denen unter anderem Ludger Honnefelder und Ludwig Siep die angewandte Ethik aufbauen. Zwar kann man mit solchen Setzungen biotechnologischen Eingriffen in die "menschliche Natur" mitunter Einhalt gebieten, doch für den Gedanken einer bewussten Gestaltung und Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse bleibt kaum Platz, wenn alles einer hierarchischen Ordnung der Natur eingefügt scheint. Diese anthropologische Ethik ist gegen jene Ethikkonzeptionen gerichtet, die von einem autonomen, vertragsfähigen Individuum ausgehen, also auch gegen die Position von Jürgen Habermas.
Um so erstaunlicher ist dessen anthropologische Wende. Angesichts von Gentechnologie und Präimplantationsdiagnostik verteidigt auch Habermas eine ewige "menschliche Natur". Zu ihr gehört, wie es heißt, die "Unverfügbarkeit der genetischen Grundlagen unserer leiblichen Existenz". Das zielt vor allem gegen eine liberale, marktgesteuerte Eugenik. Doch setzt diese Kritik voraus, dass man die körperliche Natur als unveränderbar gegeben annimmt. Deutlich ist das zum Beispiel in der Rede vom "organischen, sich selbst regenerierenden Leben, aus dem heraus die Person geboren wurde". Generationen- und Geschlechterverhältnisse, vor allem die Frau beziehungsweise die Mutter, "aus der heraus" eben keine "Person" sondern ein Säugling geboren wird, sind hier völlig verdrängt.
Dies ist durchaus symptomatisch. Denn mit der philosophischen Anthropologie führt Habermas die stumme Macht der Biologie in seine Theorie ein, in der Körper und Natur seit jeher eine Leerstelle waren und in der Auseinandersetzung mit den Neurowissenschaften auf die Devise "Kant mit Darwin zu versöhnen" gebracht wird. Doch das Problem, menschliches Handeln als immer schon körperliches und in Naturzusammenhängen situiertes zu begreifen, ist auch mit dem Dualismus von Körper und Leib nicht gelöst. Zum einen hält Habermas an der Vorstellung eines autonomen Subjekts fest, das Autor des eigenen Lebens ist. Zum anderen überlässt er mit der Position eines "weichen Naturalismus" der Biologie und ihren Wahrheitsansprüchen ein Stück weit das Terrain. Doch ein bisschen Positivismus gibt es nicht. Entweder unterstellt man, biologisches Wissen gebe unmittelbare Auskunft über die Realität, oder man begreift es - wie jegliches Wissen - als gesellschaftlich und kulturell situiertes.
Mit der Biologisierung von Sozialem schreiben sich diese Positionen in eine lange Tradition ein. Kaum eine andere wissenschaftliche Disziplin ist so sehr und so nachhaltig für die Begründung und Absicherung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen in Anspruch genommen worden wie die Biologie. Nicht zuletzt zehrten das Modell der Zweigeschlechtlichkeit und der moderne Rassismus von ihr. Doch dem Biologismus beziehungsweise den Neo-Biologismen, die im Zusammenhang mit den Biowissenschaften auftreten, ist nicht durch einen einfachen Kulturalismus zu begegnen. Vielmehr müsste es darum gehen, ein Natur- und Kulturverständnis zu entwickeln, das menschliche Praxis gleichzeitig als Veränderung von Natur und in Naturzusammenhängen situiert begreift. Entgegen des herkömmlichen Verständnisses, das den Natur- und Technikwissenschaften aufgibt, objektive Wahrheiten hervorzubringen, wären diese selbst als gesellschaftlich eingebundene Praxis anzuerkennen, die spezifischen Zwecksetzungen folgt. Um diese gilt es zu streiten, soll die im Entstehen begriffene "Biotech- (Re)produktionsweise" (Charis Thompson), die nicht nur auf die menschliche Fortpflanzung ausgreift, sondern auf die Reproduktionsprozesse von menschlichen, tierischen und pflanzlichen Substanzen insgesamt, nicht zu einem neuen Herrschafts- und Ausbeutungsparadigma werden.
Susanne Lettow ist Philosophin und arbeitet derzeit an einem Forschungsprojekt zum Thema Geschlechterverhältnisse in den philosophischen Debatten der Biowissenschaften.
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