Wie schon das Weltsozialforum 2009 im brasilianischen Belém fand das Forum in Dakar unter dem Eindruck der tiefen Krise des neoliberalen Globalisierungsprojekts statt. Doch während vor zwei Jahren in Belém die Zivilisationskrise und Alternativen zur Globalisierung des Kapitalismus wie die Idee des buen vivir (guten Lebens) die Debatten beherrschten, war dies in Dakar anders. Die Umbrüche in Ägypten und Tunesien sowie der afrikanische Kontext dominierten das WSF. Schon auf dem beeindruckenden Eröffnungsmarsch wurde deutlich, dass dies kein Forum der großen übergreifenden Forderungen und Parolen würde. Dem Organisationskomitee war es gelungen, soziale Bewegungen und Basisinitiativen Westafrikas zu mobilisieren.
Charta der Migranten
Es gab durch das
tenEs gab durch das Land ziehende Karawanen, die aus den Nachbarländern kamen und so auf das Forum aufmerksam machten. Sie kamen jedoch nicht mit roten, grünen oder welchen Fahnen auch immer, sondern zugleich mit ihren Anliegen: Landraub (land grabbing) angesichts der immer knapper werdenden landwirtschaftlichen Nutzflächen, Schutz lokalen Saatguts und lokaler Produktion vor der Kontrolle durch die Multis. Beklagt wird die Überfischung (sea grabbing) durch den industriellen Hochseefang auf Kosten der Küstenfischerei in Westafrika. Sichtbar waren die starken Frauenbewegungen in Afrika, doch auch die Festung Europa mit ihrem menschenverachtenden „Grenzschutzregime“ war ein Thema. Immer wieder wurden die Teilnehmer aus Europa gefragt, auch von Studierenden aus dem Senegal: Wie kann es sein, dass ihr ohne Visum hierherkommen könnt, und wir nicht einmal die Chance auf ein Visum haben? Immer wieder wurde die Forderung nach globaler Bewegungsfreiheit erhoben, als Teil globaler Bürgerrechte. Schon vor dem Forum verabschiedete ein eigenes Forum zu Migration eine Charta der Migranten.Kurzum: die neuen und alten Formen des Kolonialismus prägten das Ereignis. Anders als beim WSF in Nairobi 2007 entfiel diesmal westliche Arroganz gegenüber afrikanischen Basisbewegungen. Dazu trug auch bei, dass religiös motivierte Gruppen – ob christlich oder muslimisch – wenig sichtbar waren und damit die Intoleranz mancher Linker nicht gefordert schien. Aktiv waren freilich katholische und evangelische Hilfewerke, die auch vielen ihrer Partnerorganisationen im Süden die Teilnahme am Weltsozialforum ermöglichten. Der Evangelische Entwicklungsdienst stellte auf dem Forum eine vielbeachtete Studie zu EU-Westafrikanischen Fischereikooperationen vor, die nach dem Urteil der Verfasser massiv das Recht auf Nahrung der Fischer und ihrer Familien an den Küsten verletzen. Anders als bei den Foren in Lateinamerika waren diesmal linke Parteien und Gewerkschaften wenig sichtbar. Aus Deutschland war von den Gewerkschaften nur die GEW dabei. Während ansonsten die Europäer und Lateinamerikaner, von den zahlenmäßig dominierenden Afrikaner abgesehen, das Bild bestimmten, gab es aus Asien (bis auf Indien) kaum Teilnehmer. Auch die NGOs aus Nordamerika waren nicht so präsent, wie es ihrer Stärke eigentlich entspricht.Land and Sea GrabbingEs gibt keine Regierung auf dem afrikanischen Kontinent, die sich auf die altermondialistische* Bewegung bezieht, folglich wurden die Revolutionen in Tunesien und Ägypten zum machtpolitischen Bezugspunkt des Forums. Gerade im Maghreb hat ein Duzend Sozialforen stattgefunden und den Boden für den Wandel bereiten helfen. Allerdings wäre es übertrieben, den Fall der Regime in Tunesien und Ägypten als Erfolg der Globalisierungskritiker zu deuten.Bewährt hat sich wiederum die neue Methodik des WSF: Nach einem Tag von Veranstaltungen zu afrikanischen Themen gab es zwei Tage mit selbstorganisierten Veranstaltungen der teilnehmenden Organisationen. Große, zentral organisierte Veranstaltungen gab es außer der Eröffnung und dem Abschluss nicht. Wie bei vorigen WSFs fanden vielfach zu den gleichen Themen verschiedene Treffen statt, weil sich die Organisatoren schichtweg nicht kannten. Am Schluss folgten dann eineinhalb Tage, die Aktionsversammlungen vorbehalten waren. Zu jedem relevanten Thema fand hier jeweils ein Meeting statt – insgesamt 38. Sie waren praktisch durchweg ein großer Erfolg.Oft basierten beschlossene gemeinsame Aktionen auf den Vorbereitungsarbeiten von globalen Netzwerken, die schon vor Jahren auf vroangegangenen WSF gegründet wurden. Diese Netzwerke – oft mit kleinen Sekretariaten, Mailinglisten, regelmäßigen Telefonkonferenzen – sind einer der größten Erfolge der Weltsozialforen und werden bei derKommentierung oft übersehen. Es bleibt dabei – das Weltsozialforum ist ein globaler Open Space mit Aktionsorientierung. Es gab keine systematische Dokumentation der 38 Aktionsversammlungen. Deren Ergebnisse binden politisch nur die Teilnehmer, nicht jedoch das Weltsozialforum als Ganzes. Bei einem mit 300 Teilnehmern sehr gut besuchten Meeting zu land grabbing wurde eine ganze Reihe von Aktivitäten vereinbart und dazu eine Erklärung zum Thema verabschiedet. Dabei wurde klar, dass der Kampf um traditionelle Landnutzungsrechte und damit das Recht auf Nahrung jeweils vor Ort gewonnen werden muss. Zwar sind die Konsumwünsche der – global gesehen – Reichen wie auch multinationale Konzerne beziehungsweise mächtige Staaten ursächlich für das land grabbing im Süden – ein entscheidender Schlüssel liegt jedoch bei den lokalenBehörden und Nationalstaaten im Süden. Sie müssen die Rechte der Kleinbauern verteidigen, statt der Exportlandwirtschaft in oft korrupter Weise zu dienen. Ganz Ähnliches wurde auch bei einer am Rande des Weltsozialforums durchgeführten großen Konferenz zu land and sea grabbing der Grünen Fraktion im Europaparlament mit betroffenen Kleinbauern und Fischern deutlich.Hier sollte das Weltsozialforum dazu dienen, Druck gegen illegitime Praktiken westlicher Konzerne und die Handelspolitik der EU aufzubauen, die Kleinproduzenten im Süden zum Schaden gereicht. Gleichzeitig sollte der faire Handel gestärkt und die Bewegungen im Süden unterstützt werden, die ihren jeweiligen Regierungen Paroli bieten.Sarkozys Manöver Bei verschiedenen Treffen wurde auch die Mobilisierungsagenda der nächsten Monate deutlich. In Frankreich finden dieses Jahr der G8 und G20-Gipfel statt. Präsident Sarkozy will sich seiner kritischen Öffentlichkeit als Altermondialist präsentieren, der dann billig und folgenlos an "bösen anderen Staaten" scheitert. Gleichzeitig bremst er in der EU bei der Regulierung der Finanzmärkte und der Einführung der Finanztransaktionssteuer. Es scheint klar, dass die französischen Bewegungen diese durchsichtige Strategie nicht durchgehen lassen werden. Die Aktionsversammlung zu G8/G20 beschloss eine entsprechende Erklärung. In Frankreich hat sich ein Organisationskomitee gebildet, das auch europäisch vernetzt ist. Es sind daher starke Mobilisierungen zum 21./22. Mai nach Deauville und zum 31. Oktober bis 5.November nach Cannes zu erwarten. Darüber hinaus orientieren viele Bewegungen auf die kommende Weltklimakonferenz Ende 2011 im südafrikanischen Durban und stärker noch auf den Rio+20-Erdgipfel in Brasilien im Mai. Dass diese beiden für Klimaschutz und Biodiversität entscheidenden Konferenzen in stark wachsenden Schwellenländern stattfinden, ist politisch spannend. Sowohl die Regierung in Pretoria als auch die in Brasilia sind aus sozialen Bewegungen hervorgegangen, doch haben sie sich gerade im ökologischen Bereich alles andere als mit Ruhm bekleckert. Wie ökologische und soziale Krise in einer gemeinsamen ökonomischen Strategie angegangen werden können, wird zum zentralen Thema werden. Aus diesem Kalender ergibt sich ein Reigen von großen Mobilisierungen für die altermondialistische Bewegung: Deauville, Cannes, Durban, Rio.Dies alles unterstreicht den Wert des Weltsozialforums. Von einer Erschöpfung oder einer perspektivlosen Wiederholung der Inhalte kann jedenfalls keine Rede sein. Die Weltsozialforen entwickeln sich regional und thematisch weiter. Was es jedoch nach wie vor nicht gibt und wohl bis auf weiteres nicht geben wird, ist eine übergreifende gemeinsame Theorie der sozialen Bewegungen und unabhängigen Zivilgesellschaft. Der Eindruck von Erschöpfung gründet vielmehr in einer falschen Sehnsucht nachEinheitlichkeit und einem großen vereinigenden "Ismus". Dass es diese ideologische Engführung nicht gibt, ist jedoch nicht einfach Schwäche, sondern gleichzeitig demokratische Stärke der altermondialistischen Bewegung.