Kulturpolitiker aller Fraktionen im Bundestag sind dafür. Versteht sich von selbst. Schließlich geht es um die eigene Sache: An Artikel 20 soll ein Absatz b hinzugefügt werden mit dem Wortlaut: "Der Staat schützt und fördert die Kultur." Das hört sich gut an. Rechtspolitiker nennen solche grundsätzlichen Formulierungen "Staatsziel". Die Metapher gibt die Richtung vor, wohin die Politik steuern soll. Wer kann dazu im Land der Dichter und Denker schon Nein sagen? Abgeordnete, die prinzipiell gegen ein "Staatsziel Kultur" Kritik anmeldeten, würden Gefahr laufen, auf der politischen Bühne als Banausen ausgebuht zu werden. Ergo: Alle machen mit und sprechen von "Bewusstseinsschärfung" und "Signalwirkung für Parlamentarier und Bevölkerung." Der Symbolcharakter ist überhaupt der gemeinsame Nenner, auf dem die Gesetzesinitiative ruht. In den Koalitionsparteien beschwört man das "deutliche Zeichen", das ein Staatsziel Kultur setzen würde. Einverständnis kommt auch von Links und Grün. Von der FDP sowieso. Ihre Fraktion hat den Gesetzesentwurf vorbereitet.
Entstanden war das Vorhaben "Staatsziel Kultur" in der vergangenen rot-grünen Legislatur in der Enquete-Kommission des Bundestags "Kultur in Deutschland". Diese Gruppe, bestehend aus Abgeordneten und Experten, kümmert sich um eine "Bestandsaufnahme". In öffentlichen Anhörungen liefern Theaterintendanten, Museums- oder Bibliotheksdirektoren ihre Berichte ab, die neben hundert anderen Aspekten immer wieder auch die finanzielle Ausstattung der Kultureinrichtungen ansprechen. Den Mangel an öffentlichen Geldern thematisieren die Sachverständigen in solchen Sitzungen mal vorwurfsvoll oder betrübt, mal hoffnungsvoll oder resignierend. Allen Vorträgen gemeinsam ist die Sorge um Abbau und Vernachlässigung der staatlichen Kulturleistungen. Deshalb tönt jetzt laut der Ruf nach Schutz. Und weil eine verfassungsrechtliche Zielbestimmung keine unmittelbare Kostenfolge hat, ist die Grundgesetzänderung gerade recht und billig.
Vor diesem Hintergrund erscheint der verfassungspatriotische Einsatz fürs Staatsziel als Bankrotterklärung der Kulturpolitik. Die Abgeordneten im Bundestag haben - volkstümlich gesprochen - nichts Besseres zu tun. Direkte Gestaltungsmöglichkeit gibt es für sie kaum. Zu 45 Prozent wird in Deutschland Kultur von den Kommunen und weiteren 45 Prozent von den Ländern finanziert. So bleibt nur das berühmte "Rahmenbedingungen abstecken" übrig, nachdem man sich aus den unübersichtlichen Zahlen, Daten, Fakten der föderalen Kulturlandschaft eine "Anlass-zur-Sorge-Summe" abgeleitet hat. Von 2002 sind die Kulturausgaben von Kommunen und Ländern von 8,3 auf 8,0 Milliarden Euro im Jahr 2004 zurückgegangen. Da muss man was tun. Und sei es auch nur, ein Zeichen zu setzen. Denn mehr als ein Zeichen ist es nicht.
Wenn in einer Kommune die gefürchtete "Haushaltskonsolidierung" ansteht, wird sie - wenn nötig - auch an Musikschule, Theater und Co streichen. Auch dort wird gekürzt. Daran haben jedenfalls in der Vergangenheit die Staatsziele der einzelnen Bundesländer nichts ändern können. Denn außer im Stadtstaat Hamburg ist bereits in allen Landesverfassungen die Kunst- und Kulturförderung als politische Aufgabe verankert. Das reicht aber anscheinend nicht. Trotz Föderalismusreform und bestätigter Kulturhoheit der Länder soll es jetzt die Bundesebene sein. Geradezu bestechend erscheint in diesem Zusammenhang das Argument, dass die Länderhoheit durch eine Grundgesetzerweiterung nicht eingeschränkt werde. Es tut niemandem weh. Auch deshalb sind alle dafür.
Dass die Kulturschaffenden selbst - vor allem deren Lobbyisten - ins gleiche Horn stoßen, muss nicht extra erwähnt werden. Warum sollte man sich in einer Kultursparte wie etwa dem Orchesterwesen gegen ein Staatsziel Kultur wenden? In den neunziger Jahren wurden in Ostdeutschland dutzendweise Orchester abgewickelt. Im Westen setzte ab den Jahren um das Millennium die Welle von Fusionen und Privatisierungen ein. "Orchestersterben" ist nunmehr in Ost und West möglich. Beim Beispiel der Philharmonien wird allerdings deutlich, dass die Metapher vom anzupeilenden Staatsziel unstimmig ist. Wonach man sich sehnt, ist gar keine, irgendwo in der Zukunft liegende Vision, sondern vielmehr der verflossene Status quo der guten alten Zeit, als in ostdeutschen Städten wie Eisleben und Prenzlau staatliche Orchester zur Selbstverständlichkeit gehörten und im Westen jede ARD-Anstalt sich bedingungslos hinter ihren Rundfunkklangkörper stellte.
Dieser prinzipiell konservative Blickwinkel bildet auch den Unterschied zum Staatsziel Tierschutz, das unter Rot-Grün 2002 formuliert wurde. Hier ging es nicht ums Bewahren und Innehalten, sondern um Veränderung und Aufbruch. Als Vision wurden zum Beispiel größere Käfige - Volieren - für Legehennen diskutiert. Bis heute dient in Plenumdebatten die Tierschutzklausel vor allem grünen Abgeordneten als Argumentationsstütze - häufig gefolgt von polemischen Einwänden des anderen politischen Lagers, dass Rot-Grün außer großen Staatszielworten nichts weiter erreicht habe. Wenn Bundestagsdiskussionen auf diesem Niveau ankommen, zeigt sich die engherzige Variante des Verfassungspatriotismus, wobei die Leute nicht nur darauf achten, was im Grundgesetz drin steht, sondern vielmehr darauf schielen, wer es da hat reinschreiben lassen.
Seitdem die Tierschützer ihren Verfassungsrang geltend gemacht haben, befürchtet so mancher Abgeordnete, dass jede politische Zielgruppe nun ihre Grundrechte als Staatsziel einfordern könnte. Tatsächlich drängt zum Beispiel der Deutsche Kinderschutzbund, nach dem Tier- und Menschenrecht auch das Kinderrecht aufzunehmen. Für die Alten hat sich bislang noch niemand stark gemacht. Es wäre jedoch nur logisch.
Im Rechtsausschuss zu Jahresbeginn und bei der ersten Lesung im Plenum im März blies den Freunden und Förderern des Staatsziels "Kultur" erstmals kühler Wind entgegen. Das Grundgesetz dürfe nicht überladen werden, lautete die Kritik. Die Bedenken der Rechtspolitiker haben ihren Grund. Denn im vergangenen Jahr der Fußball-WM sind auch die Sport-Funktionäre aktiv geworden. Sport solle ebenfalls Staatsziel werden. Am besten in einem Satz im gleichen Artikel 20 b formuliert. Dagegen hat sich Hans-Joachim Otto von der FDP gewehrt, Vorsitzender des Kulturausschusses des Bundestags. Durch eine Kopplung sehe er die übergreifende Bedeutung der Kultur herabgesetzt. "Die Kultur ist mehr als eine schöne Freizeitbeschäftigung." Ab diesem Punkt geht es um Eitelkeiten, wer das wichtigere politische Feld besetzt! Die Argumente werden staatstragender und kippen ins Lächerliche, wenn es heißt: "Kultur ist die geistige Lebensgrundlage." Oder: "Wir sind eine Kulturnation." Wie so oft ist völlig unklar, über welchen Kulturbegriff sich die Abgeordneten überhaupt verständigen.
Doch egal, welche Ziele den Kulturpolitikern durch den Kopf gehen. Ihnen sitzt immer die Realpolitik im Nacken und die heißt Umkrempelung des Sozialstaats. Auf ihrem Kunst- und Kulturterrain bedeutete das bislang größtenteils in Ländern und Kommunen Rücknahme öffentlicher Leistungen. Demgegenüber ist die Bundespolitik hilflos. Dient der Aktionismus rund ums Staatsziel am Ende dazu, diese Hilflosigkeit zu kaschieren?
Das "deutliche Zeichen", das alle setzen wollen, birgt noch eine andere Lesart. Auch das Sozialstaatsprinzip ist ein in Artikel 20 formuliertes Staatsziel. Ausgerechnet in den Jahren, in denen der Wohlfahrtsstaat schrittweise zurückgestutzt wird, sollen neue Staatsziele gesteckt werden. Ob gewollt oder nicht: Das alte Ziel Sozialstaat erscheint nicht mehr ganz so wichtig. Der Sozialstaat wird zu einem von mehreren Zielen. Ein Abdriften vom Kurs fällt weniger auf.
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