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Kehrseite I A fällt mir vor die Füße, mitten am Tag, schwer wie ein Alptraum. "Wo ist die Baustelle?", fragt sie entsetzt. Alles in allem wächst vor mir eine aus ...

A fällt mir vor die Füße, mitten am Tag, schwer wie ein Alptraum. "Wo ist die Baustelle?", fragt sie entsetzt. Alles in allem wächst vor mir eine aus dem Lot geratene Person mit kantigen Schultern empor, das Gesicht grob und gebirgig, der Blick aus dem Zentrum geraten. Sie rückt sich den Rock zurecht, "gestern war sie noch da". Ich bin nachdenklich, kann mich jedoch an keine Baustelle erinnern. Ihr Mund steht offen. Sie fleht mich an, "was ist menschlich ?" Ich sage: "Jemand, der mehrmals versucht, vergeblich einen Brief zu schreiben." A denkt nach. Schaut nach unten, schüttelt den Kopf. Ihre Sachen liegen auf der Straße ausgebreitet. Wir bücken uns, um sie in ihre Tasche zu stopfen. Zerrissene Zettel, Tampons, Stifte, kleine rote Herzen. A sagt, sie heißt A und muss dringend "dort" sein. Ihr Haar ist wild, ihre Augen bedrohlich, der Körper groß und massig. Sie fragt weiter, "was ist unerträglich?" Ich sammele die roten Bonbonherzen ein, sie sind in einer Vertiefung im Asphalt eingeklemmt, meine Fingernägel zu kurz, ich komme nicht ran. Ich erwidere: "Zehn zielgerichtet gebaute Papierflieger, die nacheinander neben dem Papierkorb landen." A ist unzufrieden. Mit einem Stöckchen grabe ich vorsichtig die Herzen aus dem Spalt. "Komisch", sagt A plötzlich erleichtert. Völlig unerwartet kreischt sie mit heller Stimme in meine Straße, in mein Leben: "Ich weiß gar nicht, wo ich bin!"

Ich verfolge die Spur der Herzen. Mein Orientierungssinn ist visuell, ich bewege mich vom Zielort zum Ausgangspunkt, in umgekehrten Songlines sozusagen. Manchmal sind die Straßen verkehrt, oder ich verlaufe mich, oder ein falsches Bild schleicht sich ein und ich finde die Auflösung nicht, dann steige ich in den Helikopter und ziehe eine Luftlinie mit Kreide diagonal. Auch das kann ins Auge gehen. Ich beschreibe A bildhaft den Weg. A frisst die Herzen auf und grinst. Ich rede weiter. A verschränkt die Hände, triumphiert und signalisiert mir damit unsere getrennten Welten oder meine Beschränktheit, oder, dass sie die Königin des Chaos ist. Sie fragt mich, was lustig ist, ich bin bockig und antworte mürrisch: "Jemand, der Erleichterndes sagt, erfreut ist, eine Lösung gefunden zu haben, so in etwa"; "Ich habe Schmerzen ... im Unterbauch". A bricht fast zusammen, das ungebändigte Lachen dröhnt aus einem tiefen Tal und erschüttert wie ein Erdbeben. Ich bin entsetzt, bereit sofort zu gehen. Sie verstummt und tastet hilflos nach meiner Hand, wie ein Kind und winselt, "den Pulli hier, hab ich selbst gestrickt." Ich werde weich und ungeduldig zugleich, sie stampft fordernd mit dem Fuß auf. "Ich habe doch schon immer hier gewohnt". Wir setzen unseren Weg fort. A sieht nicht, was ich sehe und ich sehe nicht was A sieht. A navigiert nach Geräuschen und erzählt von ihren Bildern.

Sie führt mich den steilen Berg hinauf. Ein unbeschreiblicher Umweg, ahne ich. "Nein", wittert sie. Sie heftet sich an ein Schaufenster und ihre Augen leuchten, die grüne Bluse mint, ein Stoffberg Koralle dahinter, von Silberfädchenteilchen flankiert, und etwas Rotes gehisst, ganz oben. "Na also! Jetzt rechts". Ihr Zeigefinger schnellt auf ein Haus mit Baugerüst. "Siehst du", grinst sie verwegen, schräg über den Platz, "dort muss die Uhr sein". Die Uhr ist da, A schleppt mich wie eine Löwenmutter durch den Dschungel, unermüdlich, von der Uhr zum orangenen Papierkorb, den gleichen Weg zurück, den Schienen nach.

Es ist dämmrig geworden. Die Straße verlängert sich kaugummiartig. Zögern vor einem verkrusteten Doppelfenster in Parterre. Ein Aquarium mit toten Fischen rottet vor sich hin. Die Stadt schläft.

Wir starren in ein versteinertes Wohnzimmer. Der Lichtkegel des Fernsehers züngelt über Gegenstände, trifft auf einen Tisch mittig, streift seitlich links die Schrankwand und rechts ein Sofa.

Da ist was. Dichte Schatten bevölkern den Raum. Unsere Sehkraft bemüht sich umso mehr, die Schatten deuten Wesen an, die sich eigentümlich vervielfältigen.

Ein Auge leuchtet. Aber bewegt sich nicht. Kleine Körper in bedrückender Enge, am Boden, auf dem Tisch, den Stühlen, und da, noch mehr, auf der Sitzgruppe, dem Fernseher, Teddyhorror kriecht aus blauen Nebelhülsen zu Tage. Und ganz hinten im Dunkel ein größeres Objekt, was ist das?

Eine Wölbung bewegt sich auf und ab. Eine Täuschung?

Ein zerlebter Mensch. Eingeschlafen.

"Ich bin jetzt angekommen", sagt sie und: "Was ist böse?"

Ich bin unendlich müde, fühle mich verschluckt, missbraucht und ausgespieen. "Jemanden mit einem Wort vernichten", sage ich. Sie steht auf und präpariert ihre Kleidung. Ich schau mich um und weiß nicht, wo ich bin. Ich frage sie, wie spät es ist, doch da entfernt sie sich bereits, wendet sich um und flüstert, "das weiß man nie".

Sylvia John ist 1960 in Weimar geboren. Lehrberuf: Wirtschaftskaufmann. Sie studierte zwei Jahre Malerei in Leipzig, ist diplomierte Szenenbildnerin, schreibt und fotografiert.


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