Tiere und Erscheinungen sind in der Stadt

Kehrseite I Ein befreundeter Filmregisseur besaß einst ein Chamäleon. Ein Chamäleon ist ein stilles Tier. Sonntags saß es ruhig und kühl auf seiner Schulter und ...

Ein befreundeter Filmregisseur besaß einst ein Chamäleon. Ein Chamäleon ist ein stilles Tier. Sonntags saß es ruhig und kühl auf seiner Schulter und beide starrten durch das Fenster auf eine Dreispurhauptstraße.

Die U-Bahn fährt hier parallel zur Straße über der Erde, das heißt, die U-Bahn-Überführung sitzt gewissermaßen auf der Schulter der Straße. Die Farbe des knallgrünen Chamäleons war plastikgrün. Die der Überführung ist dunkelgrün mit preußischblau. Ich erzählte ihm von dem Architekten, der für den Anstrich der Überführung verantwortlich war. Der Zug kam näher und flutschte quer durchs Fenster in den Bahnhof wie in einen Taschenschlund. "Eigenartige Farbe, wie ist er darauf gekommen?" "Er hat sie geträumt". Das Chamäleon und der Regisseur lebten in einer ausgebauten Mietwohnung, abgezogene Dielen, viel Holz und an der Toilette hing ein Schild "Tür geschlossen halten. Chamäleon."

"Was für ein Traum war das?" "Er ist farbenblind."

Erhielt das Chamäleon keine quicklebendigen Heuschrecken oder mangelte es an Zuwendung, wurde es tatsächlich schwarz. Fuhren zwei Züge gleichzeitig in verschiedene Richtungen, entkoppelte sich das Chamäleonaugenpaar nach rechts und links. Mir gelang dies ebensowenig wie dem Filmregisseur, obwohl sein Auge in die entlegensten Farbwinkel der Welt vorgedrungen war. "Was es wohl sieht?"

"Farbwerte lassen sich über Grauwerte bestimmen, aber wenn man die Farben nicht kennt, ob man das spürt, flirrendes Rot?"

"Angeblich sehen Kühe alles verkehrt herum." "Nun, das kommt darauf an." "Worauf?" "Ich kannte einmal eine sehr einsame Frau, die hing an einem blinden Hund, 10 oder 15 Jahre lang. Die Frau - mittelgroß und blond, der Hund - mittelgroß und blond, beider Gang gazellenartig schwebend. Die Frau war im kritischen Alter, hatte sich mit der Einsamkeit abgefunden und war total auf den Hund fixiert. Und plötzlich wurde der Hund immer dünner, bekam allerdings einen dicken Bauch. Es war ein Trauerspiel, wie der Hund sich umherschleppte und die Frau vor Gram verfiel. Die Frau war richtig am Ende. Der Bauch vom Hund wuchs und wuchs und als sie zum Tierarzt ging, lernte sie jemanden kennen und wurde schwanger. Kurz darauf starb der Hund."

Zwei U-Bahnen trafen sich in der Mitte vom Fenster und die Augen des Chamäleons ebenso. Es schien so, als würde es lächeln. "Blöde Geschichte vom blinden Hund, der sich opfert als Märtyrer."

"Sie hat ihn begraben, er war eben ein Ersatz, oder nenn es Zufall."

"Oder die Liebe war nicht echt." "Oder zu Ende."

Jahre später erst erfuhren Regisseur und Tierarzt vom Geschlecht des Tiers, als es kleine Kugeln in der Erde hinterließ und eine Handvoll Chamäleonliebhaber in Nachwuchsfieber versetzte, wobei die gelegten Eier längst hinüber waren. Der Regisseur spielt jetzt mit dem kleinen Sohn am Fenster - an die Todesursache des weiblichen Chamäleons kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Eines Tages trafen wir uns zufällig im Café, und ich schilderte ihm meinen unerklärlichen Traum vom Chamäleon letzte Nacht. "Das überrascht mich", sagte er, "als ich gestern zurückkam vom Dreh, hatte meine Mutter die Tiefkühltruhe offen gelassen und vielleicht ist seine Seele entwichen, in deinen Traum?"

Sylvia John wurde 1960 in Weimar geboren. Sie studierte zuerst Wirtschaftskaufmann, dann Malerei in Leipzig. John arbeitet unter anderem als Szenenbildnerin in Berlin und schreibt und arbeitet im Café.


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