Auf dem Planeten Alegre

Disziplin, Vielfalt, Phantasie Das Europäische Sozialforum in Paris deklinierte eine andere Globalisierung

Vierzehn Jahre nach dem Fall der Mauer überrascht die Financial Times mit kosmischer Erkenntnis: Wir leben in einer Welt, jedoch auf zwei Planeten. Der ältere von beiden heißt Davos, beherbergt das Weltwirtschaftsforum und erscheint genauso perfekt kartografiert wie kontrolliert. Der jüngere, die Heimat des Weltsozialforums, heißt Alegre, ist im wesentlichen unerschlossen und vom Kainszeichen wüster Vielfalt markiert. In den neunziger Jahren von militanten Globalisierungsgegnern besiedelt, wurde Alegre um die Jahrtausendwende zur Heimat von Weltbürgern, die sich mit der institutionellen und sozialen Architektur von Davos nicht mehr abspeisen lassen, sich quer durch Generationen, Hierarchien und Nationen als autonome Teile einer rasant wachsenden Bewegung fühlen und die sich zwischen dem 12. und 15. November 2003 unter einem neuen, noch ungewohnten Namen selbst aus der Pariser Taufe gehoben haben: Alter-Mondialisten.

Mehr als 50.000 Teilnehmer aus 60 Ländern wurden registriert. Sie und nicht minder die internationalen Beobachter hatten alle das gleiche Problem: ein nasses Stück Seife lässt sich leichter fassen als die unübersichtliche Vielfalt, der noch unorganisierte Weg und die universellen Perspektiven dieser neuen Massenbewegung, die sich bewusst vor den Toren von Paris zu einer gigantischen und formal wie inhaltlich einzigartigen Weiterbildungsveranstaltung zusammengerauft hat. Das neue politische Gewicht dieser Bewegung ließ sich nicht nur am Opportunismus von Jospin und anderen Größen der französischen Politik ablesen, die sich über Nacht frei nach J.F. Kennedy mit "Ich bin ein Altermondialist" outeten. Allein schon die Tatsache, dass in Paris eher die Mühen des Lernens und Kennenlernens und ein hohes Niveau des offenen und toleranten Dialoges gepflegt wurde und radikale Manifeste, militante Aktionen und dicke Parolen keine Vorfahrt mehr genossen, erzeugte Neid und mehr als nur tiefes Misstrauen.

Walden Bello, Träger des alternativen Nobelpreises, formulierte die Perspektiven der Altermondialisten mit besonnener Leidenschaft und nannte an erster Stelle Disziplin als die alles entscheidende Basis, um den Weg zu einer dauerhaften Hegemonie dieser Bewegung zu beschreiten, die kritische Masse der Weltbürger sei noch lange nicht erreicht. Der von ihm skizzierte Weg zur globalen Zivilgesellschaft ist steil, verträgt Vielfalt, verlangt neue Phantasie und eine Absage an jede Form des Sektierertums. Die Davoser dieser Welt wissen, so Bello weiter, nicht nur um die Krise der nationalen und internationalen Institutionen und den Mangel an geeigneten Rezepten, sie leiden auch unter der lähmenden Erkenntnis, dass die politischen Modelle des 19. Jahrhunderts spätestens seit dem Mauerfall kränkeln. Hinzu kommt der sichere Instinkt, dass sich diese Bewegung die Konstruktion eines vereinigten Europa nicht so einfach aus der Hand nehmen lässt. Der Entwurf für eine europäische Verfassung, dem die neoliberalen Fingerabdrücke von Davos anhaften, wurde jedenfalls unübersehbar abgelehnt.

Diese Stimmung traf auch Bernard Cassen, den Vizepräsidenten von Attac France. Er gehörte mit dem militanten Bauern José Bové zu den sichtbaren Figuren des Forums und sah sich nach seinen Auftritten unerwarteter Kritik ausgesetzt. Das Modell des Intellektuellen, der sich als Sprachrohr von Volkes Wille profiliert, um dann der alten Elite Empfehlungen und Lösungen anzudienen, habe nun endgültig ausgedient. Auch Daniel Cohn-Bendit, der noch kurz vor dem Forum die Grünen zu einer hektischen Debatte über die Zukunft Europas versammelte, beißt hier mit seinem im Vorfeld verbreiteten und fast leidenschaftlichen Plädoyer für eine Annahme des Entwurfs zur europäischen Verfassung auf Granit. Seine Rhetorik, auch die französische Revolution und die Verfassungen, die ihr folgten, hätten ihre Mängel gehabt und dennoch Enormes bewegt, will ihm niemand mehr im "Ernstfall Europa" abnehmen.

Das Misstrauen der Alter-Utopisten gegen jede Art der Führerschaft ist massiv und verführte Politiker und Kommentatoren aller Couleur dazu, der neuen Bewegung jede Politikfähigkeit schon im Vorfeld abzusprechen. Eine voreilige Attitüde, die nicht sehen will, dass es hier mehr um bewegende Fragen als um alte Antworten geht. Welche Gesellschaft wollen wir, welche Erziehung, welche Bildung, welche Gesundheit, welche Transporttechnik, welche Art der globalen Kommunikation, welche Landwirtschaft, welche Nahrung, welche politische und soziale Architektur? Viele haben sich für dieses Forum Europas weit besser vorbereitet als für ihr eigenes Abitur.


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