Burn-out der Bauern

Kapitalismus Was die Milchquote mit Byung-Chul Hans Theorie verbindet. Zum Irrsinn des agroindustriellen Komplexes
Ausgabe 13/2015

Eigentlich war die Idee gar nicht so schlecht: Die EU-Länder legen mit einer Quote fest, wie viel Milch europaweit produziert werden darf. Jeder Milchbauer bekommt eine maximale Produktionsmenge zugewiesen, damit sich Angebot und Nachfrage die Waage halten und die Preise stabil bleiben. So sollten auch kleine Betriebe in schwierigen Lagen, etwa in den Mittelgebirgen oder in den Alpen, eine Chance bekommen, weiter Landwirtschaft zu betreiben.

Zum 31. März wird die Milchquote nun nach gut dreißig Jahren abgeschafft. Was sie gebracht hat? Viele Landwirte bekommen zurzeit weniger als 30 Cent pro für einen Liter Milch – ein entwürdigender, selten kostendeckender Preis für die Knochenarbeit im Kuhstall. Auch das Höfesterben hat die Regelung bestenfalls leicht gebremst: In den vergangenen fünfzehn Jahren hat sich die Zahl der Milchviehbetriebe in Deutschland etwa halbiert. Clevere Landwirte aber haben gute Geschäfte mit der Quote gemacht: Man konnte sie wie an einer Börse kaufen, leasen und sogar untervermieten.

Nun wird der Markt es richten, ist zu hören, endlich stehe die Leistung wieder im Vordergrund. Ihre Hoffnung: Die Weltbevölkerung wächst, die Asiaten konsumieren mehr Milch und Käse, und vor allem die Chinesen könnten künftig noch mehr Milchpulver aus Deutschland importieren, weil sie nach zahlreichen Skandalen ihrer eigenen Produktion misstrauen.

Mit dem Ende der Quote wird sich der Strukturwandel in den folgenden Jahren vermutlich verschärfen, kleinere Betriebe werden aufgeben, und die großen werden noch größere Investitionen machen, vermutet Friedrich Ostendorff, der agrarpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion und selbst Landwirt. Er beobachtet Wachstumssprünge von fünfzig auf sechshundert Kühe – von Höfen, die gar nicht genug Land haben, um Futter für so viele Tiere anzubauen und ihre Exkremente loszuwerden. „Milchfabriken“ nennt er das.

Tanja Busse schreibt über Ökologie und Ökonomie. Sie ist Autorin von Die Wegwerfkuh. Wie unsere Landwirtschaft Tiere verheizt, Bauern ruiniert und Ressourcen verschleudert Blessing Verlag (2015)

Hinter diesen Millioneninvestitionen steckt das typische Leistungs- und Wachstumsdenken der Branche, die aus Bauern staatlich unterstützte Agrarunternehmer macht, die dem Ruf nach Weltmarkt bereitwillig folgen. Überleben könne in Zukunft nur, wer zu den hochrentablen Top-Landwirten gehöre, predigen die Berater. Solche Betriebe müssten mindestens vierhundert bis achthundert Kühe haben. „So ist unser Wirtschaftssystem“, hat es der Milchexperte einer Landwirtschaftskammer auf den Punkt gebracht. „Der Gewinner ist der Gewinner.“

Der Glaube an die Unausweichlichkeit der darwinistischen Verdrängung in der Landwirtschaft, die Gewissheit, dass nur schiere Größe effizient sein kann, ist sehr stark in der Agrarbranche. Das Problem dabei ist nur: Die Rechnung geht nicht auf – ökologisch nicht, weil die großen Betriebe ihre Kühe nicht mehr auf die Weide lassen können und von Importfuttermitteln abhängig sind. Aber auch ökonomisch nicht.

Enormer Kraftakt

Die modernen Intensivbetriebe haben ihre Milchleistung nämlich so effizient gesteigert, dass sie an anderer Stelle wieder ineffizient geworden sind. Sie haben ihre Leistung auf gigantische Mengen von mehr als 10.000 Litern pro Tier und Jahr getrieben. Das ist ein enormer Kraftakt für die Tiere: Eine Kuh muss fünfhundert Liter Blut durch ihr Euter pumpen, um einen einzigen Liter Milch zu erzeugen. Doch in der Euphorie über diese Rekordleistungen haben die Herdenmanager aus den Augen verloren, dass die meisten Kühe solche Superleistungen nicht länger als zwei oder drei Jahre durchhalten. Viele bekommen Stoffwechselstörungen, Euter- oder Klauenkrankheiten und werden nicht wieder tragend. Man könnte es den Burnout der Kühe nennen. Solche Kühe werden oft geschlachtet, im Durchschnitt mit gerade vier oder fünf Jahren, und durch neue junge Hochleistungsproduzentinnen ersetzt.

Inzwischen haben die Züchter das erkannt und ihre Zuchtziele geändert: Sie streben nun Kühe an, die eine besonders hohe Lebenstagsleistung erbringen, also viel Milch umgerechnet auf die gesamte Lebenszeit. Doch damit stellen sie das Prinzip der permanenten Hochleistung nicht in Frage. Ein solches System aber, das weder Pause noch Erholung kennt, bleibt notwendigerweise anfällig.

Wir brauchen dringend eine gesellschaftliche Debatte darüber, ob wir eine solche Ausnutzung von Tieren dulden. Das geht nicht nur die Landwirte an, sondern auch alle Konsumenten, die Milch und Fleisch kaufen. Und wir müssen die ökonomischen Widersprüche dieser Intensivierung besser analysieren und daraus eine andere Förderpolitik ableiten. Die Fachzeitschrift Elite warnt: „Eine Kuh in Deutschland steht im Schnitt 2,3 Laktationen im Stall, Geld verdient sie aber frühestens zu Beginn der dritten Laktation.“ Das bedeutet: Die meisten Kühe werden schon ausrangiert, bevor sich die Kosten für ihre Aufzucht überhaupt amortisiert haben. Und noch absurder ist: Je größer die Betriebe, desto eher kollabieren die Kühe. Das belegen die Statistiken des wichtigen Zuchtverbands für Hochleistungskühe, die Deutschen Holsteins. Danach melken die kleinsten Höfe ihre Kühe fast zwei Jahre länger als die Betriebe mit mehreren hundert Kühen. Den Landwirten wird also geraten, in ein System zu investieren, das sich offensichtlich nur schwer beherrschen lässt.

Das alles bringt sie in eine schwierige Situation: Sie arbeiten unter hohem Risiko unter dem Druck oft millionenschwerer Investitionen. Der Einfluss der Kapitalmärkte auf die Landwirtschaft ist in den letzten Jahren gestiegen, immer mehr Anleger investieren in Agrargüter. Deshalb schwanken die Weltmarktpreise immer heftiger. Die Energiewende wiederum fördert den Anbau von Biogas-Anlagen, mit denen sich zurzeit mehr Geld verdienen lässt als mit Milch- oder Fleischproduktion. Deshalb sind die Preise für Land in den letzten Jahren gestiegen. Kostendeckende Erzeugerpreise sind also keineswegs garantiert. Gleichzeitig herrscht ein großes Machtgefälle auf dem Lebensmittelmarkt: Zehntausenden einzelnen Landwirten stehen eine Handvoll großer Molkereien und Schlachthöfe gegenüber, die mit ihrer Marktmacht Preise diktieren. Für die Landwirte bedeutet das alles ein Risiko, das umso größer wird, je mehr sie von einem einzigen Produkt abhängen und je weniger mögliche Abnehmer es für dieses Produkt gibt.

Um dieser schwierigen Situation zu entkommen, treten viele Landwirte die Flucht nach vorn an. Sobald sie in guten Jahren Gewinne gemacht haben, raten ihnen Steuerberater, Kammer und Verbände unisono: „Da musst du was machen, sonst kriegt der Staat das Geld!“ Einige Betriebsleiter investieren mehr, als sie in ihrem eigenen Berufsleben jemals abarbeiten können. „Da ist der Junior gleich mitverschuldet, obwohl er noch gar nicht geboren ist“, sagt der Landwirt Heinrich Strohsahl. „Wenn man überlegt, wie viele Kühe ein Landwirt melkt, um der Bank die Schulden zurückzuzahlen, und wie viele er für sein Einkommen melkt, dann kommt man am Ende wieder auf überschaubare Herdengrößen.“

Manager? Landwirte!

Der Berliner Philosoph Byung-Chul Han hat beschrieben, wie in der spätmodernen Leistungsgesellschaft die Selbstausbeutung an die Stelle der Fremdausbeutung getreten ist. Vermutlich hatte Byung-Chul Han dabei die urbanen Manager und Freiberufler vor Augen, doch passt seine Beschreibung der verinnerlichten Gewalt exakt auf das Leben der modernen Landwirte. Wie sie von ihren überlangen Arbeitstagen berichten, von ihrer Leistungsbereitschaft, ihrem Vergrößerungsdrang. Wie sie mit größter Selbstverständlichkeit von dem finanziellen Druck berichten, dem sie bei größter wirtschaftlicher Unsicherheit standhalten, und wie sie sich mutig auf das Spiel mit dem Risiko einlassen. „Ab einem bestimmten Produktionsniveau ist die Selbstausbeutung wesentlich effizienter, viel leistungsstärker als die Fremdausbeutung, weil sie mit dem Gefühl der Freiheit einhergeht.“

Man könnte sagen, aus dem Leibeigenen sei ein bankeigener Bauer geworden. Sobald er Millionen in einen neuen Kuhstall investiert hat, gibt es kein Zurück mehr. Spätestens in diesem Moment kann er nicht mehr bereit sein, mit Kritikern über alternative Haltungsformen zu diskutieren, ohne seinen gesamten Lebensentwurf in Frage zu stellen. Stattdessen wird er sich in die Arbeit stürzen, genau so, wie Byung-Chul Han das beschrieben hat: Leistungsbereitschaft, Selbstausbeutung, verinnerlichte Gewalt. Dem Burnout der Kühe könnte – nach dem Ende der Quote – der Burnout der Milchbauern folgen.

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