Jede Nation verfügt über spezifische Beleidigungen. Manche führen direkt in einen Streit. Aber nur wenige Beschimpfungen münden in einen existenziellen Konflikt, hinter den man nicht zurücktreten kann, bei dem es dann heißt: Ich oder er. In Georgien ist eine von diesen tödlichen verbalen Waffen das, was ich „Mutterfluch“ nennen möchte. Er fehlt im pejorativen Vokabular der Deutschen.
Ich will es an einer Anekdote aus meinem Leben deutlich machen. Seit fast 30 Jahren lebe ich in Deutschland, nach einem Studium in Russland kam ich erst in die DDR. Dort kam es eines Tages dazu, dass ich mit meiner Frau, die Deutsche ist, in eine andere Wohnung ziehen sollte. Wir hatten Möbelpacker engagiert, die ziemliche Fieslinge waren und die ihre Arbeit irgendwann mit der Begründung niederlegten, unsere Kisten seien ihnen zu schmutzig. Da mir das nicht recht einleuchten wollte, sprach ich mit dem Boss der Truppe, der sich allerdings noch viel weniger zugänglich zeigte und auch nach stundenlangem Streit keinen Finger mehr rühren wollte. Da entfuhr mir der Mutterfluch: „Ich f… Deine Mutter.“ In Georgien ist es klar, dass man den Mutterfluch nur dann ausspricht, wenn man wirklich ganz sicher ist, dass der andere unbewaffnet ist, denn ansonsten ist es möglicherweise schnell aus mit einem. Der Möbelpacker-Boss war aber wohl mit dieser Beleidigung nicht vertraut und wollte wissen: „Warum denn meine Mutter?“
'Du bist nicht sauber'
Zinedine Zidane hätte mich sofort verstanden, schließlich hat sein Kopfstoß, mit dem er sich im WM-Finale 2006 bei Materazzi für einen erweiterten Mutterfluch (Zidanes Schwester kam darin auch nicht gut weg) rächte, seine Karriere beendet. In Europa gibt es eine Art Nord-Süd-Gefälle, eine unsichtbare Mutterfluch-Grenze. In Georgien hat jedermann Zidanes Verhalten verstanden und sogar gelobt: Großer Spieler, großer Abgang.
In Deutschland kommen mir Beschimpfungen hingegen oft etwas eindimensional und wenig abwechslungsreich vor. Die schlimmste und gängigste Beleidigung, die ich bei verschiedenen Schlägereien, die ich beobachtet habe, hörte, war „Arschloch“. Dafür kann man sich hinterher sogar noch entschuldigen. Diese Beschimpfung weist auf eine anale Fixierung hin, gepaart mit einer Faszination für das Fäkale. Sie ist aber auch im Bereich des Hygienischen angesiedelt, so wie „Schwein“. Man teilt dem anderen mit: „Du bist nicht sauber, Du bist ekelhaft.“
Der Mutterfluch hingegen ist eine eindeutig sexistische Beleidigung, zeigt Gewaltbereitschaft (denn man muss ja schon annehmen, dass es sich um eine Vergewaltigung handeln würde), verhöhnt die Herkunft des Feindes und ist damit eindeutig eine der schlimmsten Erniedrigungen, die man jemandem zuteil werden lassen kann. Eine der intimsten Beziehungen, die man hat, wird damit herabgewürdigt. In den Bergen Georgiens kann der Mutterfluch auch zu einem omnipotenten „Schwur“ umgewandelt werden: „Wenn ich das und das nicht schaffe, nehme ich meine Mutter zur Frau!“ – Hier wird dann auch gleich noch die Grenze zum Inzestverbot überschritten.
Jeder kann vulgär reden
Abgesehen von diesen sehr alten, kulturell geprägten Tabus hat die Wirksamkeit des Fluchs auch mit dem besonderen Status einer Mutter in der Gesellschaft zu tun. Schließlich gehen Historiker davon aus, dass der Prototyp aller späteren Religionen auf der Verehrung von Muttergottheiten der Jungsteinzeit beruht – also auf der besonderen Position der Mutter.
Ich bin Molekularbiologe, und ich kann nur meine ganz persönliche Meinung zum Besten geben und natürlich keine ethno-psychologisch gesicherte Theorie. Meine eigene Erklärung für den Mutterfluch in Georgien hat nicht zuletzt auch mit der Größe und der Geschichte des Landes zu tun: Georgien ist mit einer Bevölkerung von vier Millionen Menschen nicht nur sehr klein – wie ein erweiterter Vorort von Neu Delhi. Das Land hat in den vergangenen Jahrhunderten auch viele Kriege erlebt und wurde oftmals von sehr großen Nachbarn in seiner Existenz bedroht. Das bedeutete auch, dass jedes Kind – wie auch jede Mutter – besonders behütet werden musste.
Ich weiß nicht, ob mir die Geschichte mit dem Möbelpacker hier noch ein zweites Mal passieren könnte. Inzwischen haben sich die Zeiten geändert. Der Fluch hat seine Kraft verloren, obwohl er immer noch genauso gewalttätig und sexistisch klingt.
In modernen, säkularisierten und offenen Gesellschaften wie Deutschland und Georgien gelten nur noch wenig Redeverbote. Mittlerweile können Politiker im Fernsehen fluchen, die Schwelle für vulgäres Reden ist sehr stark abgesenkt worden. Sogar Frauen verwenden den Mutterfluch – was früher undenkbar war und auch ziemlich sinnlos ist. Flüche werden immer alltäglicher und „profaner”. Sie verlieren ihre Kraft, obwohl ein richtiger Fluch „sakral” sein muss.
Protokoll: Hanna Engelmeier
Von Fluch und Segen
Fluch, Verstoßung oder Segen gehören zu den stärksten performativen Sprechakten, die wir kennen. Eine ungeheure Macht der Sprache wird daran erfahrbar. Wir ‚Modernen’ ahnen dies, sind aber doch befremdet. Wir haben gelernt, dass ich natürlich nicht ein ‚Schwein’ bin, wenn einer es zu mir sagt. Wir sind beleidigt, aber auch nur halb, und notfalls klärt ein Gericht (und nicht mein Affekt), ob eine Beleidigung vorliegt oder nicht. Ich stehe nicht als Ganzes auf dem Spiel, ob ich nun beleidigt werde oder gesegnet. Dass mich aber ein Wort wie vom Donner gerührt sein lässt, das ist eine Begegnung mit dem „archaischen Erbe“, von dem Sigmund Freud sagt, dass es unauslöschlich ist, so aufgeklärt wir sein mögen. Daran erinnert, wenn wir mit etwas konfrontiert sind, das wir als „inneres Ausland“ ausgegrenzt haben: die Ehre. In Wahrheit ist sie nicht überwundene Vergangenheit, sondern jederzeit aufrufbar – und das verbindet uns mit den Kulturen, denen die Ehre noch der substantielle Kern ihrer Identität ist.
Hartmut Böhme lehrt Kulturtheorie am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität Berlin. Er begleitet die Serie mit kurzen, theoretischen Einordnungen.
In der Reihe Wie uns die Anderen sehen, konzipiert von Hanna Engelmeier und Marco Formisano, haben wir eine besondere Gruppe von Zuwanderern um ihren alltagskulturellen Blick auf Deutschland gebeten: Wissenschaftler, Architekten, Mediziner, Schauspieler und Künstler erzählen von ihrer bisweilen schon vertrauten, aber oft auch noch fremden Heimat. Durch ihre Arbeit haben sie einen geregelten Zugang zur Gesellschaft, aufgrund ihrer Herkunft ein besonderes Gespür für die Unterschiede in der Bedeutung alltäglicher Praktiken. Im nächsten Teil der Serie erklärt die Japanerin Ai Ikeda, welche Parallelen und Unterschiede ihr beim Umgang mit freier Zeit zwischen Deutschen und Japanern aufgefallen sind.
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