Ist das spätrömische Dekadenz?

Eventkritik Champagner-Exzesse, Fußballfieber und aufwändig inszenierte Shows: Die Berliner Fashion Week zeigte, wozu Mode in der Lage ist, wenn sie neue Einflüsse aufnimmt

Vergiss die It-Bags, brandneue Boytoys und schwindelerregende Keilabsätze! Während der Sommerschauen gibt es nur ein Accessoire, das ein Besucher der Mercedes-Benz Fashion Week in Berlin nicht für einen Moment aus der Hand gibt: einen Fächer. Der Aufdruck darauf signalisiert, zu welchen Präsentationen man bereits geladen war. Und er zeigt, welchem Modemacher man den Vorzug gab, um bei den nachfolgenden Schauen einen leichten Luftzug zu erzeugen.

Neulinge, die erst am letzten Tag der Fashionweek in das Zelt am Bebelplatz kommen, wedeln mit Einlasskarte oder Kollektionsbeschreibung. Stilbewusste Vielbeschäftige können die Hitze hingegen bereits abgestimmt auf ihr Outfit lindern. Der senfgelbe Fächer des Michalsky-Sponsors zerfällt allerdings bei zu kräftigem Einsatz in seine Einzelteile.

Trotz der Temperaturen ist fast jeder Sitzplatz vergeben, das spricht für die wachsende Bedeutung der Modewoche in Berlin. Trotzdem ist der Abschied des großen Zeltes vom Bebelplatz beschlossene Sache. Kritiker fanden es pietätslos, dass dort, wo die Nazis 1933 Bücher verbrannten, heute Mode gefeiert wird. Ab kommendem Sommer soll die Fashion Week ihr Zelt woanders aufschlagen. Auf einem Entwurf des Labels „Starstyling“ findet der Standortstreit einen letzten, ambivalenten Kommentar: „Fashion will burn on Bebelplatz“.

Integriertes Fußballschauen

Dass die Fashion Week in diesem Sommer mit der Endphase der Fußball-WM zusammenfällt, bereitete den Veranstaltern im Vorfeld einige Sorgen. Aber an der Torstraße 175 kann man beobachten, dass Fußball und Mode gut zusammenpassen. Public Viewing wird einfach integriert. Die Schmuckdesignerin Sabrina Dehoff feiert hier vier Jahre nach Labelgründung die Eröffnung ihr erstes eigenen Geschäfts. Die Präsentationsfläche des kleinen Ladens und ein Stück holpriger Bürgersteig beheimaten eine ungewöhnliche Fußballparty. Zu Rhabarberschorle und Bier, jedoch ohne Flaggen und schwarz-rot-goldene Schminke, pausieren mehrere Dutzend Mode-Gäste, um die Partie Spanien-Deutschland zu schauen. Auch andere Gastgeber haben Einladungen in Sorge um zu geringe Gästezahlen mit der Information ergänzt, dass Mode und Fußball zueinander finden würden.

Am nächsten Morgen erinnert an die trübe Stimmung, die nach dem Ausscheiden des deutschen Teams eingekehrt war, nur ein Reporter im Ballack-Trikot. Es ist zu heiß, um Trauer zu tragen. Zusätzlich sprengen Tempo, Taktung, neue Trends und alte Bekannte die eigene Aufnahmefähigkeit.

Wer die Kollektionen des Münchner Designers Patrick Mohr in den letzten Jahren verfolgt hat, wäre irritiert, wenn Mohr diesmal eine gewöhnliche Schau mit gewöhnlich schönen Models darbieten würde. Und Mohr erfüllt die Erwartungen: Nach Obdachlosen und Bodybuildern laufen für die Kollektion „Unity“ nun weibliche und männliche Models, die mit künstlicher Glatze, blasser Schminke und langem Zauselbart ausgestattet wurden. Die Verschmelzung von Geschlecht und Hautfarbe ziehen den Blick immer wieder weg von den geometrischen Schnitten. Das Defilee schließt mit dem afroamerikanischen Albinomodel Shaun Ross und einer bis auf die Knochen abgemagerten, dunkelhäutigen Frau. Nach der Show fällt im Zelt immer wieder das Wort Magersucht, doch eine Reduktion auf dieses Dauerthema der Branche würde der Vieldeutigkeit von Mohrs Inszenierung nicht gerecht werden.

Eine Hungersnot scheint dafür Hugo Boss stillen zu wollen. Zwei riesige Zirkuszelte, die über 1.000 Gäste fassen, hat das Unternehmen im Park am Gleisdreieck errichten lassen. Nachdem eine für Boss typisch edle Kollektion, mit beerenfarbenen Anzügen als Abschluss, den Laufsteg passiert hat, raunt eine Männerstimme über die Lautsprecher: „Ladies and Gentlemen, dinner is served.“ Hinter den Verbindungsgängen zum zweiten Zelt offeriert Boss ein mehrgängiges Buffet. Bei Kerzenschein können die Gäste an kleinen Tischen oder langen Tafeln so viel Delikates verspeisen, wie das Abendkleid zulässt. Bis weit nach Mitternacht bringen die Kellner Nachschub. Während andere Partys ein Ende finden, wenn der Getränkevorrat verbraucht ist, wird hier endlos ausgeschenkt. Zumindest bei Boss scheint die Krise vorbei. Oder ist das schon spätrömische Dekadenz?

Gegen Champagner-Schnorrer

Designer-Star Michael Michalsky hingegen reduziert seine StyleNite im Gegensatz zu seiner mehrstündigen Show im Januar in Umfang und Gästezahl. Er verzichte gern auf Leute, die nur für kostenlosen Champagner kommen, sagt er. Die Show strafft er auf eine halbe Stunde: Seine Models peitscht er bei den Proben mit lauter Stimme ein. In der Halle des Tempodrom folgt dann wahre Unterhaltung: Mode, eingebettet in andere darstellende Künste. Zunächst präsentiert das Label Maharishi eine Kollektion direkt aus der Wüste, inspiriert von der Long Range Desert Group der Britischen Armee. Den Übergang zu Michalskys Präsentation gestaltet Opernsängerin Nadja Michael mit einem Stück aus Medea, gekleidet ist sie in der Akzentfarbe der Kollektion: leuchtendes Orange. „Bedrohte Arten der nördlichen Hemisphäre“ lautet der Titel für Michalskys Designs, Tiermuster ergänzen eine elegante Kollektion. Abschließend zeigt er Kostüme, die er für die Show YMA entworfen hat. Spärlich bedeckte Gladiatoren und Fabelwesen zwischen Star Trek und Elfenmärchen beeindrucken mit Tanzeinlagen.

Michalskys Designs für den Catwalk mögen weniger couragiert anmuten als manch avantgardistischeren Entwürfe, doch die interdisziplinäre Inszenierung leistet für die Wahrnehmung der Branche etwas Wichtiges. Mode entwickelt ihre Stärke im Zusammenspiel: Oper und Theater gewinnen durch eine eigene Sprache des Kostümdesigns an Kraft. Modeschauen bedürfen der Musik, die Stimmung und Farben der Entwürfe verstärkt. Gerade nach der Michalsky-Schau wundert man sich daher sehr, warum der Bebelplatz fortan nur noch für klassische Kultur-Veranstaltungen freigegeben werden soll – für die Präsentation von Mode hingegen nicht.

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