Im Jahr 1875 wollten die deutschen Sozialdemokraten in ihr Parteiprogramm schreiben, dass der Arbeitslohn "gerecht" sein und der "Arbeitsertrag" der Arbeitenden "unverkürzt" ausgezahlt werden müsse. Eine bekannte Londoner Politik-Beratungsagentur riet ihnen in einer - gratis erstellten - Expertise von dieser törichten Formulierung ab: Es gebe unter den Verhältnissen der Lohnarbeit überhaupt keinen gerechten Lohn, es sei denn die Lohnarbeiter würden zu Besitzern ihrer Firma. Ansonsten orientiere sich die Lohnhöhe an den Kosten, die der Arbeiter zur Reproduktion seiner Arbeitskraft habe. Der Lohn sei keinesfalls das Äquivalent des Wertes, den der Beschäftigte durch seine Tätigkeit geschaffen habe, der sei stets höher als der Lohn, weswegen Lohnarbeit einen Mehrwert schaffe. Mit freundlichen Grüßen und so weiter.
Die Londoner Politik-Beratungsagentur schloss 20 Jahre nach der Expertise, als der letzte Hauptgesellschafter verstarb. Die Sozialdemokraten hingegen, die - von einigen marginalen Änderungen im Parteiprogramm abgesehen - dem Beratungsangebot nicht folgten, waren dann im 20. Jahrhundert mehrfach regierend tätig. Seit dem entspricht der deutsche Arbeitslohn den Kosten für die Reproduktion der Arbeitskraft zuzüglich eines politisch ausgehandelten Revolten-Verhinderungsaufschlags. Die Höhe des Revolten-Verhinderungsaufschlags orientiert sich an der Verfügbarkeit realistischer Alternativen zum Kapitalismus. Folglich ist dieser Aufschlag auf den Mindestlohn seit der Krise und dem Zusammenbruch des Staats-Sozialismus immer unnötiger geworden. Wie übrigens auch die deutschen Sozialdemokraten, die derzeit als "SPD i. A." die auch formale Übergabe der Amtsgeschäfte an die deutschen Groß-Bürger vorbereiten. Letztere wollen die Löhne, die man im ehemaligen Sozialstaats-Kapitalismus heute noch fordern zu können meint, weiter abschmelzen. "Der Mindestlohn", den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände vereinbaren, "nimmt vielen Menschen die Chance, eine neue Arbeit zu finden", stellte Hans D. Barbier kürzlich in einem Gespräch mit dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch fest. "Im Schutze der Zumutbarkeitsklauseln" würden sich "eben nicht alle Arbeitslosen motiviert fühlen, rasch eine neue Arbeit anzunehmen." Und der hessische Ministerpräsident fügt hinzu, dass durch die "steigende soziale Sicherheit" die "Ausbeutungsvorstellungen auf immer höherem Niveau immer normaler werden." Es ist schon überraschend, wo und wie der Begriff "Ausbeutung" wieder auftaucht. Nun spricht man von "Ausbeutung", wenn es um die schmalen Ansprüche der Untersten der Unteren dieses Landes geht.
Um dieser "Ausbeutung" der Allgemeinheit durch Langzeitarbeitslose und Sozialhilfeempfänger einen Riegel vorzuschieben, empfehlen Koch und Barbier das "Wisconsin"-Modell, das im nämlichen US-Bundesstaat seit Jahren parteiübergreifend unterstützt wird. Auf Deutschland angewendet würde es vorsehen, Arbeitslosen immer dann die Unterstützung zu streichen, wenn sie irgendein Arbeitsangebot zu irgendeinem, auch noch so geringen Lohn, ablehnten. Wenn das aus dieser Arbeit erzielte Einkommen nicht ausreiche, so erhielte der Arbeitnehmer, wie Koch erläutert, "staatliche Subventionen, die ihn auf einen Einkommensstandard setzt, der über dem Sozialhilfeniveau in Deutschland liegt."
Durch diese famose Konstruktion sollen all jenen Unternehmern, Arbeitgebern und Interessenten an Dienstleistungen, die nicht willens oder fähig sind, ihren Beschäftigten oder Dienstboten so viel Lohn zu zahlen, dass diese davon leben können (und die nach den bisherigen Regeln des Arbeitsmarktes kein Personal gefunden hätten), diese Arbeitnehmer nun doch noch - zwangsweise und auf Kosten der Allgemeinheit - zugeführt werden. Das wäre letztlich nichts anderes, als eine Gewinn- und Dienstbotensubvention durch die Steuerzahler. Und die so Dienstverpflichteten wären nicht nur noch unfreier, noch ausgequetschter - sondern auch eine noch eindringlichere Mahnung für all jene mit Normalarbeitsverhältnis. Freilich würde das Modell seine Grenze in der Universalisierung finden. Wenn sich alle Arbeitgeber dazu entscheiden, die zweite Hälfte des Lohnes vom Staat als Sozialhilfe auszahlen zu lassen, dürfte ersterer endgültig pleite sein. Offensichtlich hat das Modell eher eine demonstrative Funktion, soll der Züchtigung und Einschüchterung der Unterschichten dienen. Vielleicht ist das ja der tiefere Sinn von Kochs Vision, der gemäß "Härte und Hoffnung sich miteinander paaren", wenn die Verkrustungen der "Wohlstandsgesellschaft" zerstört werden. Die Wohlstandsgesellschaft, so der mögliche künftige Kanzler Koch, soll einer neuen Gesellschaft weichen. Und eine "Gesellschaft mit mehr Individualität, mehr Freiheit, mehr Risiken ist eine Gesellschaft, in der du glücklicher bist."
Was derzeit zum Thema Arbeitslosigkeit zu lesen ist, wirkt oft wie verkehrte Welt. Dass mit beeindruckender Regelmäßigkeit die Kurswerte mit Entlassungswellen in den betreffenden Firmen steigen, illustriert überdeutlich, wie sehr sich die Erzeugung von Arbeitslosigkeit mit der betriebswirtschaftlichen Logik und mit vorbildlichem Manager-Verhalten deckt. "Philips spart sich profitabel" oder "Dresdner Bank beschleunigt Personalabbau" titelt man hierzu im Wirtschaftsteil der FAZ. Beide Firmen erleichtern sich in diesem Jahr um jeweils 5.000 Menschen. Dennoch erscheinen im gegenwärtigen "Reform"-Diskurs die Arbeitslosen als Verursacher der Arbeitslosigkeit. Deswegen meint man auf eine Verhaltensänderung dieses Personenkreises hinarbeiten zu müssen. Und deswegen propagieren die "Reformer" das druckvolle Einwirken auf die Arbeitnehmer und Arbeitslosen. Die Pression hat solch verbindlich klingende Namen wie "Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt", besser bekannt als Hartz I-IV. Zu diesen "modernen Dienstleistungen" gehört es, Arbeitslosenhilfeempfänger zu Auflösung und Verzehr ihrer Lebens- oder Rentenversicherungen zu zwingen, falls diese Altersrücklage über der Summe liegt, die man üblicherweise für einen Kompaktwagen ausgibt. Die neueste "moderne Dienstleistung am Arbeitsmarkt" besteht in der Kürzung der ABM-Löhne und dem Ausschluss der dort Arbeitenden von der Arbeitslosenversicherung. Nach solchen Maßnahmen sind diese Leute dann endgültig ein Fall für die Sozialhilfe und die Kochsche Sonderverwendung.
Freilich wird der Druck auf die Arbeitslosen nicht das Wachstum der Arbeitslosigkeit beenden. Morgen wird nicht die Frage stehen, ob es noch Massenarbeitslosigkeit gibt, sondern wie mit den Arbeitslosen umgegangen wird. Nimmt man ihnen die bürgerlichen Rechte, um den Menschen in Normalarbeitsverhältnissen noch besser die Arbeitszeitverlängerung und Lohnsenkung abzupressen? Oder akzeptiert man, dass eine industriegesellschaftliche Epoche zu Ende ist, und ein geordneter und friedlicher Paradigmenwechsel ansteht? Der Grundsatz, dem gemäß nur der leben könne, der auch arbeite, ist durch die heutige Produktivität obsolet geworden. Dennoch hat in den vergangenen Jahrzehnten die Freiheit der Arbeitnehmer nicht in dem Maße zugenommen, wie die Produktivität gestiegen ist. Offensichtlich lassen sich in der heutigen Wirtschaftsordnung das Wachstum von Produktivität und Freiheit nur sehr punktuell vereinen - das spricht nicht für deren Zukunftsfähigkeit. Der permanente Wettlauf um Produktivitätssteigerung, um Innovationen und neue Produkte hat nichts mehr mit dem Überlebenskampf der Menschen gegen die Naturgewalten, sondern nur noch mit dem Überlebenskampf einzelner Unternehmen zu tun, - in einem Wirtschaftssystem dessen zentraler Entwicklungsstimulus der Kannibalismus zwischen den Wettbewerbern ist. In diesem Dauerkrieg zahlen den Preis für Niederlage oder Sieg - ganz egal - immer die Arbeitnehmer, Arbeitslose und im weiteren Sinne all jene, die auf die öffentliche Infrastruktur der Gesellschaft angewiesen sind. Die permanente Extensivierung und Intensivierung von Arbeit führt auch dazu, dass die Produktivität der Arbeitnehmer in ihrer Rolle als Eltern, Familienangehörige und Bürger eines Gemeinwesens immer weiter sinkt. Die alltägliche Reproduktion von Kultur vollzieht sich in der Erziehung und Bildung von Kindern, in verlässlichen Freundschaften, in Kommunikation und Interaktion im darüber hinausgehenden sozialen Nahbereich und in der Teilhabe an kommunalen oder politischen Aushandlungsprozessen. All das wird durch die parallel zur wachsenden Arbeits-Produktivität schwindenden Kultur-Produktivität der Menschen erodiert. Bekannte Effekte sind die sich oft in Gewalttätigkeiten äußernde soziale Inkompetenz von Kindern und Jugendlichen, deren - von Berufs- und Hochschulen gleichermaßen beklagte - schlechte Bildungsstand sowie die schwindende Motivation und Zuversicht der jungen Erwachsenen. In den Erwachsenen-Generationen zeigt sich diese Erosion in politischer Apathie, in sich radikalisierenden Ressentiments und in einem Kältestrom resignativer Entsolidarisierung.
Die paradoxe Spaltung der Arbeitnehmer in ausgepowerte Arbeitsplatzbesitzer und niedergedrückte Arbeitslose offenbart, dass das zentrale Steuerungsprinzip des gegenwärtigen Kapitalismus das der Repression, das der gewaltsamen Trennung der Bevölkerung von ihren Existenzmitteln ist. So lange hierbei keine Umorientierung einsetzt, ist die Peinigung der Arbeitslosen genauso notwendig wie die Mauer in der DDR: Sie ist das Zwangsmittel, das zur Einpassung in ein System nötigt, dessen Output für die Bevölkerung immer schlechter wird.
Eine zukunftsfähige Gesellschaft muss den Menschen mehr Freiheiten bieten, als sie es heute tut. Vor allem muss sie ihnen die Freiheit bieten, über ihre Arbeits- und Lebenszeit mitzubestimmen, und dennoch - freilich auf unterschiedlichen materiellen Standards - als integrierter Vollbürger leben zu können. Schließlich gibt es sehr viele und sehr unterschiedliche Motive, einer Arbeit nachgehen zu wollen. Ob die entsprechenden Verheißungen ausreichen, das gesellschaftlich notwendige Quantum an Arbeit einzuwerben, ist eine der interessantesten Fragen der Zukunft. Der Kapitalismus braucht, wenn er nicht in Chaos und Terror versinken will, einen neuen Gesellschaftsvertrag. Die Ansprüche der Wirtschaft und die der Gesellschaft, des Gemeinwesens und des Menschen müssen den veränderten Bedingungen folgend, neu ausgehandelt werden.
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