Das Böse der Anderen

Wie antisemitisch war die DDR? (I) Viele Untersuchungen zeigen, bezogen auf NS-Diktatur und historische Verantwortung war das Problembewusstsein im Osten stärker als im Westen

Regina General hatte die Freitag-Debatte über den Umgang der DDR mit dem Thema Antisemitismus in der Ausgabe 17/07 eröffnet und sich gegen die Behauptung verwahrt, eine tiefgründige Auseinandersetzung habe es in dieser Hinsicht nicht gegeben. Sie verwies auf den Kultur- und Bildungsbetrieb, der dem Völkermord an den Juden stets einen hohen Stellenwert eingeräumt habe. Ihr antwortete Karsten Laske (Freitag 21/07) mit der These, "der ›Bodensatz‹ des Antisemitismus in der DDR" sei tatsächlich nie abgetragen worden. Die sozialen Ursachen der NS-Vernichtungspolitik habe man verabsolutiert, während die Massenbasis der NS-Diktatur kaum analysiert und das Volk pauschal entschuldet worden sei. - Im Freitag 23/07 hatte sich der Politikwissenschaftler Harald Schmid bemüht, mögliche Kausalitäten zwischen dem "antizionistischen Antifaschismus" der DDR-Führung, der besonders im Verhältnis zu Israel seinen Niederschlag fand, und antisemitischen Haltungen in der DDR zu untersuchen. Wir setzen die Debatte mit Texten des Sozialwissenschaftlers Thomas Ahbe sowie des Historikers Kurz Pätzold fort.

Wer im vereinigten Deutschland über die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der DDR spricht, tut das in einem spannungsvollen Kontext. Die beiden deutschen Nachkriegsstaaten entwickelten von Anfang an zwei gegensätzliche - und in der Bevölkerung erfolgreiche - Deutungen zur NS-Vorgeschichte. Trotz ihrer unterschiedlichen Perspektiven erfüllten beide Diskurse die gleiche Funktion: Sie entlasteten die einstigen Volksgenossen und orientierten sie auf die Gegenwart des Aufbaus. Das Böse war nun jeweils außen: Im Westen etikettierte Bundespräsident Heuss 1952 die "Ost-Zone" als Fortexistenz des Dritten Reiches, bei dem sich "nur die Embleme" gewandelt hätten. Im Osten hingegen bezeichnete man 1957 Adenauer als "Hitler unserer Tage", der offen den "militärisch-faschistischen Staatsstreich" vorbereite. Das Trauma des NS-Terrors wie auch die Schuldgefühle angesichts der ungeheuren deutschen Verbrechen wurden kanalisiert, in dem man das andere Nachkriegs-Deutschland effektvoll denunzierte und sich selbst zuschrieb, die richtigen Lehren aus dem Nationalsozialismus gezogen zu haben - hier "Demokratie statt Totalitarismus", dort "Sozialismus statt Kapitalismus und Krieg".

Während sich der westdeutsche Diskurs zum Nationalsozialismus seit den sechziger Jahren ausdifferenzierte, entwickelte sich der antifaschistische Diskurs des Ostens im Vergleich dazu wenig. Nach dem Ende der DDR ist er vom Subjekt der deutsch-deutschen Konkurrenz bei der Deutung und Aufarbeitung der NS-Diktatur zum Objekt der Aufarbeitung durch den einstigen Rivalen geworden. Die modernen erinnerungspolitischen und volkspädagogischen Standards der späten BRD und des vereinigten Deutschlands überstrahlen dann bisweilen die skandalöse und blamable Vergangenheitspolitik des Westens in den fünfziger Jahren und heben sich besonders gut ab von dem analytisch und volkspädagogisch altbackenen Antifaschismus der späten DDR. In dieser Spannung steht auch die Frage, wie die DDR die Beraubung und Vernichtung der Juden thematisierte und wie weit die Bevölkerung gegen den Antisemitismus immunisiert wurde.

Der rassistische und biopolitische Kern der NS-Politik blieb unterbewertet

Der Völkermord an den Juden blieb in der DDR lange in die übrige - und detaillierter als im Westen dargestellte - Verbrechensbilanz des Nationalsozialismus eingeordnet. In einem Schulbuch von 1961 liest sich das so: "Zwölf Millionen Menschen brachten die Nazis in den Konzentrationslagern um". Als "Kriegsziele" wies man die "Ausrottung der Juden, Slawen und aller politischer Gegner" aus. Mit den achtziger Jahren wurden in etlichen neuen Sachbüchern die Ausgrenzung und Ermordung der Juden dann stärker und differenzierter thematisiert.

Dass der Holocaust im ostdeutschen Diskurs zur NS-Diktatur nicht die Rolle spielte, wie im heute Maßstab setzenden westdeutschen, liegt an der Orientierung des antifaschistisch-antikapitalistischen Erklärungsansatzes, den die kommunistische Führungsgruppe nach 1945 im Osten durchsetzte. Religiöse, nationalistische und rassistische Überzeugungen - und damit auch den Antisemitismus - sah man als vielfältige Sekundäreffekte des wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Komplexes "Kapitalismus" an. Im DDR-Diskurs blieb daher der rassistische und biopolitische Kern der NS-Politik gegenüber ihrer sofort und blutig umgesetzten antikommunistischen Komponente lange unterbewertet. Die Vorgänge um die Vernichtung der europäischen Juden dementierten genau jene soziale Differenziertheit, die der atheistische und postnationalistisch orientierte Marxismus als wesentlich herausgearbeitet hatte. Wo die Nazis nur noch "Juden" sahen, sahen die Kommunisten die Unterschiede zwischen dem assimilierten jüdischen Kapitalisten, dem jüdischen und deutsch-nationalen Arzt, dem Rabbiner, dem kleinen jüdischen Händler, dem jüdisch-kommunistischen Intellektuellen oder dem jüdischen Proletarier. Und sie erlebten natürlich auch, inwieweit selbst unter den nivellierenden Bedingungen der rassistischen Nazi-Diktatur die sozialen und politischen Unterschiede unter den Juden deren Verhalten wie auch die Chance beeinflussten, ihr Leben vor den Mördern zu retten. Auch nach dem Jahrhundertverbrechen und dem Aufbau des Sozialismus galten diese Deutungsmuster weiter.

Menschen jüdischen Glaubens oder Angehörige des jüdischen Volkes waren vom Kampf gegen des Bürgertum und die Religion ebenso betroffen wie andere - mit zwei Ausnahmen. Als sich zu den stalinistischen Paranoia Anfang der Fünfziger nach der trotzkistischen, titoistischen und kosmopolitischen nun auch die amerikanisch-zionistische Verschwörung gesellte, verfolge man in der DDR Menschen, weil sie Juden waren. Im Januar 1953 flüchteten Hunderte - Abgeordnete, Rabbiner und Funktionäre der DDR-Gesellschaft - in den Westen. Nach Stalins Tod normalisierte sich die Lage. Die zweite Ausnahme war die weitgehend verweigerte Restitution "arisierter" Kleinbetriebe, Grundstücke und Vermögen von Juden. Hauptursache dafür war, so Jan Philipp Spannuth in seinem Buch Rückerstattung Ost, die sozialistische Ideologie, und nicht der Antisemitismus. Die offizielle DDR beförderte den Antisemitismus nicht. Auch ihre Positionen zu den Nahostkriegen begründete sie mit den üblichen antiimperialistischen Argumenten - und ging intern gegen "Antisemitismus" und "Hetze gegen die Juden" vor.

Was dachten nun die Ostdeutschen? Inwieweit immunisierte die antifaschistische Diktatur wirklich gegen Antisemitismus? Sehr viele und sehr unterschiedliche Untersuchungen zeigen, dass das Problembewusstsein in bezug auf den Nationalsozialismus und historische Verantwortung bei Ostdeutschen alles in allem stärker ausgeprägt ist als bei den Westdeutschen. Dieser prinzipielle Befund differenziert sich jedoch sehr deutlich, wenn man ihn generationsspezifisch erhebt. Die in den Siebzigern und später geborenen Ostdeutschen haben ein geringeres Problembewusstsein gegenüber dem Nationalsozialismus und weniger Distanz zu antisemitischen Haltungen als ältere ostdeutsche Jahrgänge. In der Bundesrepublik ist es umgekehrt: Hier haben die in den Siebzigern und später Geborenen eine größere Distanz zum Antisemitismus als die älteren Jahrgänge.

In der DDR war der antifaschistische Diskurs bei den ersten Generationen also am erfolgreichsten. Aus internationalen Antisemitismusstudien ist bekannt, dass der Anteil antisemitisch denkender Menschen mit dem Alter der untersuchten Kohorten kontinuierlich wächst. Sogar dieser Zusammenhang ist in der antifaschistischen Erziehungs-Diktatur der frühen DDR kurzzeitig neutralisiert worden. Während bei den westdeutschen Befragten der Anteil an antisemitischen Positionen linear mit dem Alter zunimmt, ist diese Kurve bei den bis zur Mitte der sechziger Jahre geborenen Ostdeutschen auffällig abgeflacht. - Ein bemerkenswerter Befund, den sich Werner Bergmann und Rainer Erb vom renommierten Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung "mit dem Einfluss der prononcierten Abwehrhaltung der DDR gegenüber Faschismus und Rassismus erklären." (s. auch Artikel unten) Ihrer Interpretation nach ließen die DDR-Verhältnisse dieser Zeit "weniger Grauzonen zu und verlangte(n) ... ein klares Bekenntnis gegen den Faschismus ab". Die Diskrepanz zwischen der geringen Verbreitung des Antisemitismus bei den ostdeutschen Jugendlichen von 1991 und 1994 und den gegenteiligen Ergebnissen einer repräsentativen Schülerstudie von 1997 erklärt man sich hier unter anderem "mit einem dramatischen Einstellungswandel bei Jugendlichen". Wer also pauschal über "den Wert des DDR-Antifaschismus" oder aber über die "bei den Ostdeutschen vorherrschenden antisemitischen oder rechtsextremen Einstellungen" schwadroniert, produziert nur politisch instrumentalisierbare Mythen.

Verstellter Blick auf millionenfache Einpassung im III. Reich

Die Austreibung des nazistischen Geistes und antisemitischer Einstellungen sowie die Übernahme von antifaschistischen Deutungsmustern schien bei den ersten DDR-Generationen deswegen so schnell und weitgehend vonstatten gegangen zu sein, weil die antifaschistische Erziehungsdiktatur Zugriff auf Staat und Personalpolitik, Bildung und Öffentlichkeit hatte. Der Verweis auf das Ausmaß der "faschistischen Verbrechen" wie auch die Opfer und Leistungen, die die Kommunisten oder "die Völker der Sowjetunion" im Kampf gegen die NS-Diktatur erbrachten, legitimierte nicht nur die kommunistischen Diktatoren, sondern stellte offenbar auch ein tragfähiges Identifikationsangebot dar, mit dessen Hilfe sich die ersten Nachkriegsgenerationen von der NS-Geschichte entfernen und in den neuen Verhältnissen ihren Platz finden konnten.

Die Inhalte, die im Literatur-, Kunst- und Geschichtsunterricht mit der NS-Zeit in Berührung brachten, blieben bis zum Ende der DDR die gleichen - ihr Einfluss auf Werte und Einstellungen schwand jedoch seit Ende der siebziger Jahre. Bis dahin hatten die Kampagnen für die Inhaftierten der "faschistischen Diktaturen" in Griechenland und Chile oder die Kriegsgegnerin Angela Davis, die spektakulären Bildern von den Opfern des Vietnam-Krieges sowie die Treffen mit afrikanischen Emigranten als letzte Projektionsfläche fungiert, auf die über vielerlei Spiegel die antifaschistische Legitimationserzählung noch in die Gegenwart projiziert werden konnte. Das war nun vorbei. Die Welt wie auch die Mentalität der Adressaten hatte sich gewandelt. Die Fragen, die der DDR-Antifaschismus gut beantworten konnte, hatten an Bedeutung verloren. Und zu den Lebensproblemen der Heranwachsenden - den eingeschränkten Freiräumen und Konsummöglichkeiten in der DDR - blieb der antifaschistische Diskurs stumm.

Inzwischen hatte sich eine neue Art des Selbstbezugs herausgebildet, neue Formen der Kommunikation und des politischen Lernens waren gefragt - mehr, als nur der Blick auf vergangenes Grauen und die Verbeugung vor den Vorkämpfern. Während im Westen die volkspädagogische Thematisierung des Holocaust immer mit dem Verweis auf den prinzipiellen Wert von Demokratie und Menschenrechten verbunden werden und Zivilcourage befördern konnte, blieb eine solche Pädagogisierung in der DDR heikel. Zudem verstellte der durch den heroischen Antifaschismus akzentuierte politische und militärische Kampf der Kommunisten und der Sowjetunion den Blick auf die Normalität millionenfacher Einpassung im Dritten Reich und die Beteiligung an Ausgrenzung, Beraubung und Vernichtung der Juden. Kurt Pätzold, einer der prominentesten DDR-Faschismusforscher, resümierte hierzu: "Am folgenreichsten dürfte sich aber die Tatsache erweisen, dass es die Historiker der DDR nicht zu einer Studie brachten, die gezeigt hätte, wie Millionen von Menschen gegen die Juden eingenommen wurden, sich gegen sie aufhetzen ließen oder sich - was für die Volksmehrheit gilt - deren Schicksal gegenüber gleichgültig und teilnahmslos verhielten ..." Die Aufarbeitung dieses Teils der NS-Vorgeschichte begann in der DDR erst nach 1980 und schien sich mit dem Zusammenbruch des Systems erübrigt zu haben.

Der Autor ist Sozialwissenschaftler, derzeit Forschungstätigkeit am Institut für Geschichte der Uni Wien. Buchveröffentlichungen zum Thema: Der DDR-Antifaschismus. Diskurse und Generationen - Kontexte und Identitäten, Leipzig 2007 (i.E.); Ostalgie - Zum Umgang mit der DDR-Vergangenheit in den 1990er Jahren, Erfurt 2005.


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