Die schwarze Legende

Gekränkte Seelen Um das Desaster der Politik in den neuen Bundesländern zu entschuldigen, wird an bestimmten Bildern von Ostdeutschen festgehalten

Im Jahre 1914 veröffentlichte Julian Juderias ein Buch mit dem Titel La Leyanda negra (Die schwarze Legende). Der Autor untersuchte darin das Bild von den Spaniern und dem Spanischen, wie es in den europäischen Streitschriften, in Literatur, Geschichte, Bildung und Politik in den vergangenen Jahrhunderten verbreitet wurde. Die vier Eckpunkte dieses äußerst langlebigen mentalen Konstruktes waren die Gräuel der Inquisition und Conquista, die Schandtaten Philipps II. und schließlich die "tyrannischen Absichten" und die "perverse Natur" der Spanier überhaupt. Zu einem wichtigen Basistext der Schwarzen Legende wurde die kolonialpolitische Streitschrift Brevisima de la destruyción de la indias (Kurzer Bericht von der Zerstörung Amerikas) eines spanischen Dominikaners, der durch eine entsprechend zusammengestellte Sammlung von Conquista-Gräueln das Gewissen des Kaisers unter Druck setzen und eine Revision der spanischen Indianerpolitik befördern wollte. Im 16. und 17. Jahrhundert gab es von diesem Text nur noch eine spanische Ausgabe - aber dafür etwa 60 Ausgaben in anderen Ländern. Die genannte spanische Ausgabe erschien übrigens in Barcelona in Zusammenhang mit dem katalanischen Aufstand gegen Kastilien. Das negative Stereotyp von der fremden Kultur bildet das Andere in Form einer "quasi-instinktiven Konstruktion" ab und erweist sich so als wichtiges "Mittel zur Behauptung der eigenen Identität" resümierte kürzlich der Historiker Wolfgang Reinhard dieses Spanien-Bild.

So ist das en miniature auch heute im vereinigten Deutschland und im Umgang mit dem fremden deutschen Erbe. Das Hineinströmen der Ostdeutschen in die Bundesrepublik rief bei den Westdeutschen das Bedürfnis wach, ihre eigene Identität zu behaupten, den Osten zu begreifen wie auch auf Distanz zu halten und schließlich eine Form des Umgangs mit diesen so anders erscheinenden Deutschen zu finden. All das hat auch im Westen verschiedene "quasi-instinktive Konstruktionen" und Bilder vom Osten entstehen zu lassen. Die vier Eckpunkte dieser Konstruktion bilden erstens das Thema "Terror und Repression", wonach - außer einer Clique von Verbrechern - sich niemand mit der DDR, ihren Werten und ihrer Praxis arrangiert oder gar identifiziert habe, zweitens das Thema "wirtschaftliche Insuffizienz", das die deutsche Alltagssprache schlagartig mit dem Terminus "marode" bekannt machte, drittens die ästhetisierende Perspektive, die im Osten vor allem ärmlich-biedere Hässlichkeit und brutal-diktatorischen Polit-Pomp sah und viertens schließlich das Thema "seelische Deformation", das die Ostdeutschen als sozialisatorisch oder psychisch deformiert begreift.

Die spanischen Verbrechen in Lateinamerika sind ebenso gewiss wie die Existenz der Diktatur, wirtschaftliche Effizienzdefizite oder die Andersartigkeit ästhetischer und sozialisatorischer Muster in der DDR. Doch die stereotypisierende Reduktion der Ostdeutschen auf diese Gewissheiten ist vor allem ein Akt der Selbstversicherung aus westlicher Perspektive. Das zeigt sich besonders, wenn es gar nicht mehr um die DDR, sondern um die Gegenwart geht.

Das Deformations-Stereotyp wurde kürzlich wieder in Dienst genommen, als Arnulf Baring in der Welt die schlechte Lage im Osten beschrieb und nach Erklärungen und Lösungsmöglichkeiten suchte.

Baring nannte die Tatsachen, die in besonderer Weise den Osten und seine Bevölkerung treffen - die Rezession, die Abwanderung und die Entvölkerung und Vergreisung der Region. In den zwölf Jahren seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik sind über zwei Millionen Ostdeutsche in den Westen abgewandert - ebensoviel wie in den zwölf Jahren zwischen der Gründung der DDR und dem Mauerbau. Nach dem Fall der Diktatur und dem Zugewinn von politischen Freiheiten im Osten hält die Abwanderung in den Westen weiter ungebrochen an. Die größte Rolle im Mobilitätskalkül der einfachen Ostdeutschen scheint und schien offensichtlich doch das Wohlstandversprechen des Westens zu spielen.

Die anhaltende Krise trifft heute deswegen so hart, weil den Familienverbänden eben jene Reserven fehlen, die die Eltern- und Großelterngenerationen andernorts in den fetten Dekaden akkumulieren konnten. Eine 50-jährige Ärztin ist im Westen meist aus allen Schwierigkeiten heraus, im Osten feiert sie heute das zehnjährige Jubiläum der Niederlassung und den Langmut der Bank. Wer im Osten noch ein ganzes Arbeitsleben vor sich hat, und seine Chancen vor Ort mit denen in anderen Landstrichen verrechnet, tut also das, was überall auf der Welt getan wird: Abwandern.

Die wirtschaftliche Misere in den neuen Bundesländern trifft aber nicht nur die Ostdeutschen, sie ist auch eine Herausforderung für eine manifeste West-Identität. Schließlich schrieb man den wirtschaftlichen Erfolg und die politische Stabilität der Bundesrepublik vor allem der Entscheidung für das richtige und universell erfolgversprechende Prinzip der sozialen Marktwirtschaft zu - weniger der historischen Sondersituation, die den, wie sich nun gezeigt hat, so "kurzen Traum der immerwährenden Prosperität" (Lutz) generierte. Im ungemütlichen Erwachen aus diesem Traum zeigt sich heute, dass der erlebte Weststandard nicht vollständig und dauerhaft auf das Territorium der neuen Bundesländer ausgeweitet werden kann und - aufgrund der Abwesenheit eines plausiblen alternativen Gesellschaftsmodells - auch nicht muss. Für Westdeutschland ist die ausgedehnte Stagnationsphase lediglich durch die Beitritts-Konjunktur unterbrochen worden - was jedoch die Rückkehr zum Abschwung wie auch den Abbruch des marktwirtschaftlichen Aufschwungs im Osten als eine erklärungsbedürftige Anomalie erscheinen lässt.

Diesen Erklärungsbedarf deckt Arnulf Baring nun mit seiner These von den "seelischen Verheerungen", die der Sozialismus einst angerichtet habe. Wie bei einer Art versäumten Alphabetisierung, verhindere die psychische Deformationen der Ostbevölkerung einen Aufschwung im Osten. So wird aus westlicher Perspektive die anhaltende Krise in den neuen Bundesländern zur Blamage des einstigen sozialistischen Systemkonkurrenten, anstatt zur Blamage des eigenen Prinzips.

Insbesondere fehlten der Ostbevölkerung solche Eigenschaften wie "Verantwortungsgefühl, Risikobereitschaft und selbstsichere Unternehmensfreude" - was eine schlichte Deduktion aus den Struktureigenschaften des Sozialismus ist. Ein unvoreingenommener Blick in soziologische Statistiken zeigt etwas anderes. Die neunziger Jahre in Ostdeutschland boten geradezu ein Lehrstück für die vitalen Fähigkeit einfacher Menschen, ihr Leben noch einmal in ein neues Bedingungsgefüge hinein zu entwerfen. Über 22 Prozent der einst in der DDR Beschäftigten arbeiten nach der Vereinigung in einem für sie völlig neuen Sektor - im Dienstleistungssektor. Oder die Gruppe der Selbstständigen, auf die ja Baring rekurriert, sie hat sich im Osten in den ersten fünf Jahren nach dem Beitritt fast verdreifacht. Solche Veränderungsschübe im Erwerbsleben hat noch kein Teil einer deutschen Bevölkerung erlebt. Ebensowenig, dass man mit einer unblutigen Revolution eine Diktatur zum Abtritt zwang und sich für einen Systemwechsel entschied. Das ignoriert Arnulf Baring. Solcherart politische Laientätigkeit gehört auch nicht zu dem von ihm erwünschten Traditionskanon.

Welche Traditionen er bevorzugt, verrät eher seine Erklärung, warum die "Bewohner aus den Plattenbausiedlungen" nicht zum Umzug in die Innenstädte zu bewegen sind. "Weshalb sollten sie Freude an einem Renaissance-Erker oder einem Barockportal empfinden? Man hat sie nie gelehrt, dass dergleichen schön und für das Selbstgefühl der Bewohner wichtig ist." Neben dem Mangel am aufschwungfördernden Distinktionsbedürfnis hat der Kommunismus auch den Sinn für die richtigen Traditionen zerstört - anders übrigens als "in unserem Nachbarland Polen" wie der Autor herausstreicht, dort "sind auf den Briefmarken Dwors abgebildet, also traditionelle Gutshäuser, kleine Landschlösschen. Auch in der Gegenwartsliteratur entdeckt Polen in überraschender Breite seine alten, adligen Traditionen wieder." Ob die ehemaligen Stahlarbeiter aus den Plattenbausiedlungen um Nowa Huta, aufgrund dieser Traditionspflege jetzt alle in die Landschlösschen oder in die Krakower Stadtvillen umgezogen sind und ein besseres "Selbstgefühl" haben, teilt er nicht mit.

Die Ostdeutschen jedoch blieben von ihrer Mentalität "Handlanger, Landarbeiter". Da lässt sich nichts machen, auch kein Aufschwung. Eine Chance sieht der Autor deswegen nur in der Zuwanderung aus dem Westen, einer "neuartigen, friedlichen Ostkolonisation" durch die Kinder und Enkel der seit 1945 in den Westen Abgewanderten, damit sie in den neuen Bundesländern wieder "breite Mittelschichten" und "ein flächendeckendes Bürgertum" bilden können. "In dieser gesellschaftlichen Mitte wachsen aber in allen Ländern, in allen Gesellschaften der Welt Kreativität und Verantwortungsgefühl, Risikobereitschaft und selbstsichere Unternehmungsfreude." - Es ist immer wieder das Gleiche: Anstatt die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Funktionsdefizite des eigenen Systems zu reflektieren und zu reformieren, hofft man auf besser passende, neue Menschen. Auf den Neuen Menschen setzte die SED-Propaganda in den fünfziger und sechziger Jahren auch schon.

Dass aus dem Westen importierte und anders sozialisierte Mittelständler in der ostdeutschen Sonderwirtschaftszone mehr Erfolg hätten als die einheimischen Stehaufmännchen, ist zu bezweifeln. Es liegt nicht an den Menschen und sie sollten auch nicht schwarzgeredet werden. Viel mehr sollte der unpopulären Einsicht Bahn gebrochen werden, dass die goldenen Zeiten der Vollbeschäftigung, des Aufschwungs und Wachstums so nicht wiederkehren werden und der weitere Rückbau der Sozialstaatsidee diese Zeiten auch nicht zurückbringt. Die schwarzen Legenden über die Ostdeutschen sind in einer solchen Situation gewiss tröstlich für das gekränkte West-Gemüt, produktiv sind sie nicht.

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