Im zehnten Jahr der Vereinigung scheinen die Identifikation der Ostdeutschen mit der Bundesrepublik und ihre Integration in die politische Kultur immer noch nicht zufriedenstellend. Fragt man Ostdeutsche und Westdeutsche, »worauf man als Deutscher stolz sein kann«, so nennen drei Viertel der Westdeutschen die »persönliche Freiheit«, das tut im Osten nur jeder zweite. Die demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten, monieren die meisten von ihnen, hätten sich im Vergleich zur DDR nicht verbessert. Während die Westdeutschen auf ihr politisches System stolz sind, sind die Ostdeutschen - abgesehen von ihrer demokratischen Revolution und der deutschen Einheit - eher auf unpolitische Objekte stolz: Deutsche Sportler, Städte, Dome, Landschaften, die »Kulturnation«. Zwei Drittel der Westdeutschen halten die bundesdeutsche Demokratie für die »beste Staatsform« - das tut im Osten nur ein Drittel der Bevölkerung.
Offenkundig sind diese Indizien fehlender politischer Identifikation und möglicherweise verminderten staatsbürgerlichen Engagements auch Resultat der westdeutsch dominierten Diskurse über die Ostdeutschen während der letzten Dekade. Wenn die politischen Systeme wechseln, wechseln stets auch die Erzählungen über die nämliche Gesellschaft. So, wie neue Institutionen und Strukturen konstruiert werden, wird auch eine neue Meta-Erzählung über den großen Umschwung, über die Zeit davor und die Zeit danach konstruiert. Die Version von der Vergangenheit entspricht der Version von Zukunft, die von den neuen Machthabern anvisiert wird.
Spätestens seit dem 3. Oktober 1990 wurden so neue Meta-Erzählungen über die DDR, die Ostdeutschen und ihre Zukunft im vereinigten Deutschland angeboten. Dabei haben sich im wesentlichen drei Diskursstränge etabliert: Der konservative Diskurs - er erzählt die Geschichte vom sozialisatorisch gereinigten Übertritt der von Ideen und Mustern der DDR im wesentlichen unbeeinflusst gebliebenen Ostdeutschen - also die Geschichte von der Empfängnis der Unbefleckten. Daneben gibt es die links-liberale Variante - sie legt die emanzipatorischen Maßstäbe einer idealisierten Westgesellschaft an die Ostdeutschen, diagnostiziert Deformierung und vermag ostdeutsche Andersartigkeit zumeist nur als ein Defizit, als Zeichen für »enormen Nachholbedarf« zu beschreiben. Schließlich wäre der Ostalgie-Diskurs zu nennen - er siedelt auf der diskursiven Brache, die ambitionierte Erzählungen vom »Terror in der DDR« und der »Deformierung« des Ostens lassen. Ostalgie entsteht, weil eine professionelle, medial wirksame Aufarbeitung der DDR, die nicht-stigmatisierend ist, die zu differenzieren, abzuwägen und an den Alltagserfahrungen der Leute anzuknüpfen vermag, nicht stattfindet.
Desinfektionsmittel gegen die unkontrollierte Erinnerung
Alle drei Diskurse haben eine analytische und eine motivierende Funktion. Die analytische Potenz von Ostalgie ist zu vernachlässigen: Ostalgie sagt, dass »alles irgendwie auch schön war«, dass das Leben in der DDR »viel differenzierter und verwickelter war« und heute noch ein wichtiges Stück Heimat und Biographie darstellt - »irgendwie«. Höher ist der psychische Effekt des Ostalgie-Diskurses zu bewerten. Ostalgische Praxen wirken stabilisierend und kompensierend, sie sind eine Methode, das Unausgesprochene, das in den professionellen Diskursen Verdrehte und Beschwiegene doch noch in diffuser Weise zu kommunizieren. Indem Zeichen und Sprüche der DDR rekonstruiert und rekombiniert werden, gelingt es, den befreienden und den schweren Abschied vom Lebensabschnitt DDR zu re-inszenieren und die Historisierung des »Erlebnisses DDR« in individueller Form vorzunehmen.
Der konservative Diskurs über die Ostdeutschen ist analytisch ausgefeilter, dennoch vereinseitigend. Er beschreibt etwa folgende diskursive Figur: »Die Ostdeutschen haben, wie die Westdeutschen, auch hart gearbeitet. Aber die Früchte ihrer Arbeit wurden ihnen von einem verbrecherischen Regime vorenthalten, das sie durch Terror im Lande hielt. Nun haben die Ostdeutschen in den Neuen Bundesländern ein neues Leben in Freiheit, Würde und Selbstbestimmung gefunden. Jegliche Art von Ostalgie ist undankbar und politisch fahrlässig.« Die Figur des Beitritts der vom Sozialismus Unbefleckten blendet das Changieren der Bevölkerung zwischen Beherrscht-werden und Identifikation, zwischen Verweigerung und Integration aus. Das Geheimnis der langwährenden Stabilität der DDR sei mit der Repression gegen ihre Bürger zu erklären - im Inneren der Menschen habe der Sozialismus in keiner Weise stattgefunden. Deswegen hätten ja auch die Ostdeutschen nach der Befreiung von diesen unnatürlichen Außenbedingungen auch sofort an der natürlichen Form von Gesellschaft - der Demokratie - teilnehmen wollen. Neben dem Wunschtraum eines von Fremdem und Befremdungen befreiten, quasi gereinigten Übertritts der Ostdeutschen, steckt darin auch eine geheime Angst vor der infektiösen Einschleppung von Fragmenten des konkurrierenden sozialistischen Gesellschaftsbildes. Als Desinfektionsmittel gegen die unkontrollierte Erinnerung soll der permanente Diskurs vom »Terrorregime« wirken, ebenso wie die Behauptung, dass die Ostdeutschen wirklich ohne nennenswertes sozialisatorisches Gepäck der Bundesrepublik beigetreten seien. Die Diskussion einer besonderen Ostidentität sei, wie ein ehemaliger Bürgerrechtler und heutiges CDU-Mitglied feststellte, »schändlich und herbeidefiniert«. In der Figur vom unbefleckten Übertritt der Ostdeutschen zeigt sich zum einen das konservative Bild eines von Natur aus nicht zu verbessernden Menschen, der klein und schwach, nicht im eigentlichen Sinne böse, aber verführbar, käuflich, leichtgläubig sei und daher Autoritäten und ein Patronat brauche, das ihm Grenzen setzt und kleine Freiräume überlässt.
Zum anderen zeigt sich in der Figur vom unbefleckten Übertritt, dass für den jüngsten, originellsten Erinnerungsbestand der Ostdeutschen in der bundesdeutschen Tradition wirklich kein Platz ist: Für die Erfahrung der Ostdeutschen, erfolgreich zivilen Ungehorsam geübt, erfolgreich plebejische und demokratische Forderungen gegen die politische Macht gewendet zu haben. Ebenso wenig für die Erfahrung der Ostdeutschen, wie sie mit mehr oder weniger Risiko eine demokratische, friedliche Revolution zuwege brachten. Auch nicht für ihre Erfahrung, dass sie dabei - Demonstrant und Polizist wie Kampfgruppenkämpfer - zu Verantwortung und Verständigung, Phantasie und Utopie fähig waren. Die konservative Meta-Erzählung nimmt den Ostdeutschen nicht nur eine Chance, sie verhindert auch die Aufnahme des Wertes »ziviler Ungehorsam« in den Traditionsbestand des vereinigten Deutschlands.
Bei der links-liberalen Meta-Erzählung sind die oben genannten emanzipatorischen Werte zentral - hier jedoch nicht als die historische Mitgift, die Ostdeutsche in die Vereinigung einbrachten, sondern als Ansatzpunkte nimmermüder Kritik. Während die konservative Meta-Erzählung das Moment des Zwangs überbetont und das des Arrangements mit den Herrschenden ausblendet, blendet die links-liberale das Moment der Rahmenbedingungen und Zwänge aus und streicht Arrangement, Teilhabe oder Täterschaft heraus. Die Strenge, mit der die Westlinken mit den Ostdeutschen ins Gericht gingen, liegt sicherlich nicht nur in der allgemeinen Strenge linker Kritik an der Welt begründet, sondern auch darin, dass die 1990er Volkskammer- und Bundestagsvoten einer Mehrheit der Ostdeutschen die Bundesrepublik um die anstehende politische und geistige Wende brachte, indem sie die Konservativen vor der Wahlniederlage retteten.
Als Otto Schily - damals noch grün - in einem Fernsehinterview zum Ausgang der Volkskammerwahl 1990 befragt wurde, zog er wortlos und lächelnd eine Banane aus der Tasche und hielt sie in die Kamera. Die Meinungsführer der frustrierten links-liberal eingestellten Westdeutschen entwickelten eine Meta-Erzählung, die außer acht ließ, welche Entscheidungsperspektive das Ost-Volk hatte. Westdeutsch-zentristisch wurden die Ostdeutschen als deformiert, spießig, kleingeistig, provinziell hingestellt - so als wären diese Dispositionen in Rostock und Rosenhein ganz unterschiedlich verteilt. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet jene Werte der politischen Kultur der Bundesrepublik, die als Früchte der 68er Bewegung gelten, zum Maßstab der Kritik an den Ostdeutschen wurden: So seien die Ostdeutschen »autoritärer«, so habe der »verordnete Antifaschismus der DDR« seine Aufklärungsaufgabe verfehlt, so sei in ostdeutschen Familien »repressiver« als in westdeutschen erzogen worden - alle drei Klischees sind in empirischen Studien inzwischen widerlegt - doch das schließt ihre Dominanz im Diskurs halt nicht aus.
Die Revolution ist abgeschlossen - vergessen Sie alles
Die beiden relevanten Diskurse - der konservative und der links-liberale - verhalten sich komplementär: Der konservative infantilisiert die Ostdeutschen und entlässt sie aus der Verantwortung. Der links-liberale stigmatisiert sie als dumpfe und demokratieunfähige Masse. Beide Diskurse haben für die demokratische Revolution der Ostdeutschen wenig Sinn und Verständnis. Die Revolution ist ihnen im Grunde genommen weder sympathisch noch teuer - sie ist das notwendige Bindeglied zum Beitritt der Ostdeutschen in die vergrößerte Bundesrepublik und steht unvermittelt zwischen der DDR und dem vereinigten Deutschland. Dass die demokratische Revolution in der DDR eine Revolution der DDR gegen die DDR war, dass die Bevölkerung die Werte und die Botschaft von Ideologie und Propaganda der DDR sehr wohl verstanden und schließlich gegen die Verhältnisse der erstarrten Diktatur in Stellung gebracht hat, ist in die westdeutschen Meta-Erzählungen nicht integrierbar. So bleibt es bei Lücken und Inkonsistenzen - wie in einer geschönten Autobiographie: Plötzlich stand ein Teil der Ostdeutschen gegen das »Terrorregime« auf, plötzlich waren die »autoritär Deformierten« zu einer demokratischen Revolution fähig, ebenso plötzlich verloren sie gleich wieder ihr demokratisches Potenzial, als sie nämlich an Politik und Sozialstaat der vereinigten Bundesdeutschen herumnörgelten - »mit sachunkundiger Anspruchshaltung«, »fehlendem Demokratieverständnis« und »vormoderner Staatsfixiertheit«.
Was will man von einer Kultur erwarten, in der ein linker Intellektueller zu Protokoll gibt: »Noch die konservativsten Politiker sind in ihren Entscheidungen zivilisierter als ein großer Teil des Volkes«? Sicher nicht die Aufnahme der Werte, Erfahrungen und Sinnhorizonte des Ost-Volkes in den Diskurs um Traditionen. Die Revolution ist abgeschlossen - vergessen Sie alles! Will man eine Gesellschaft an der Tradierung des zivilen Ungehorsams, der außerparlamentarischen Opposition, an einer Aufwertung der Sicht »Kleiner Leute« hindern - muss man genau die Diskurse suchen, die sich seit der Vereinigung entfaltet haben.
Ausgerechnet jene Gesellschaft, deren Kalendarium voll ist von unvollendeten Revolutionen und die eine Katastrophe verschuldet hat, aus der sich die Deutschen nicht selbst befreiten und folgerichtig Besetzung wie Umerziehung verordnet bekamen - ausgerechnet jene Gesellschaft, in der von links bis konservativ beklagt wird, dass es keine positiven identitätsstiftenden Ereignisse gibt, schlägt das Erbe der demokratischen, zivilisierten, friedlichen Revolution der Ostdeutschen aus, die in ihren Utopien und Vorstellungen das ganze Deutschland zu repräsentieren schien - bürgerliche und sozialistische, repräsentativ-demokratische bis radikal-demokratische und revolutionäre Traditionen. Dass die »Helden-Geschichte« von der demokratischen Revolution der Ostdeutschen, ihre Utopien und Werte nicht in den Mythenbestand des vereinigten Deutschlands aufgenommen werden, bedeutet auch, dass die Ostdeutschen als Gruppe nur halb in die politische Kultur des vereinigten Deutschlands aufgenommen sind. Sie scheinen das zu spüren.
Unser Autor ist Philosoph und Mitarbeiter am Institut für Angewandte Psychologie der Universität Leipzig.
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